Ein gutes Herz (German Edition)
Richtung Stopera folgte.
Zu beiden Seiten des Flusses standen Schaulustige. Bewohner der Grachtenhäuser hatten Fenster hochgeschoben und starrten mit versteinerten Gesichtern auf den Rauch und die Flammen und das Gewusel von Polizisten und Feuerwehrleuten auf der Blauwbrug. Aus den Häusern schallten die lauten, hohen Stimmen von nervösen und verwirrten Sprechern, die in Fernsehen und Radio das Neueste bekanntgaben. Radfahrer waren abgestiegen. Eine Gruppe junger Mädchen hielt sich in den Armen und ließ den Tränen freien Lauf. Autos hatten angehalten, und Fahrer und Mitfahrer waren ausgestiegen. Ein älterer Mann kam Kohn kopfschüttelnd und wild gestikulierend entgegen. Er brüllte: »Ich will das nicht sehen! Ich will das nicht sehen!«
Als Kohn die Magere Brug erreichte, kam ein Polizeiwagen entgegen der Fahrtrichtung angefahren, um den weiteren Zugangsweg zur Stopera zu blockieren. Auf der gegenüberliegenden Seite geschah das Gleiche. Kohn ging auf die Brücke hinauf. Dort standen schon siebzig, achtzig Menschen, mit offenem Mund, wie gelähmt, unfähig, sich den Rauch weg- und das geschundene Gebäude in seinen ursprünglichen Zustand zurückzudenken. Das war ihrer Stadt zugestoßen. Dem chaotischen Weltdorf mit seinen eigenwilligen Individualisten und leichtlebigen Studenten und begüterten Bürgern, seinen eitlen Grachtenhäusern, die vor Jahrhunderten mit erhandeltem und zusammengeraubtem Reichtum erbaut worden waren. Die Grachtenhäuser am linken Amstelufer zwischen Magere Brug und Blauwbrug hatten alle keine Fensterscheiben mehr. Die Druckwelle der Explosion war von der runden Fassade der Stopera aus über das Wasser auf diese Seite des Flusses hinübergerollt und hatte sich dann über das Wasser weitergewälzt, um bis zum Amstel Hotel, willkürlich, wie es schien, noch da und dort eine Scheibe zu zerbrechen.
In die Gruppe der erstarrten Zuschauer auf der Brücke, zu der sich Radfahrer gesellten, kam Bewegung, als wie aus dem Nichts das ohrenbetäubende Dröhnen von Motoren hinter ihnen laut wurde. Alle drehten sich um. Ein Hubschrauber kam so tief über das Wasser geflogen, dass Kohn das Vibrieren der Motoren in seinem Bauch spürte. Über der Magere Brug stieg der Hubschrauber unter geradezu animalischem Aufjaulen in die Höhe, die Kabine zitterte unter den wuchtigen Rotoren, die die Luft peitschten, als sollte sie für das bestraft werden, was hier vor sich ging. Über der Brücke verharrte der Hubschrauber, wohl damit man sich einen Überblick über die Situation verschaffen konnte, fauchend auf der Stelle – ein Drache, der gleich angreifen würde. Es war ein Hubschrauber der Polizei.
Um die Stopera herum standen jetzt zig Fahrzeuge, Krankenwagen, mächtige Feuerwehrtrucks. Breite Schläuche wurden ausgerollt und in den Fluss gehängt, um Wasser herauszupumpen. Die ersten Krankenwagen fuhren ab und entfernten sich aus dem Blickfeld, nach rechts, Richtung Weesperstraat. Zum OLVG , dachte Kohn. Er dachte auch: Rührend, diese Retter. Hunderte von Männern und Frauen würden hin und her rennen und ihre Körper erschöpfen, um die geschundenen Körper Unbekannter zu retten und zu versorgen.
Nach einer Viertelstunde verließ er seinen Standort. An beiden Ufern der Amstel drängten sich jetzt die Schaulustigen. Tausende standen Schulter an Schulter und gafften auf das brennende Herz ihrer Stadt.
Kohn ging die Kerkstraat hinunter zur Utrechtsestraat, wo er in einer verlassenen Kneipe Platz nahm. Bei einer jungen Kellnerin mit verweinten Augen bestellte er ein Pils. Ein Fernseher in der Ecke übertrug Bilder von der Katastrophe. Die Kellnerin setzte sich davor auf einen Barhocker, die Hände im Schoß gefaltet, als bete sie.
Aus verschiedenen Blickwinkeln zeigte das Fernsehen Bilder von der Stopera, wo es von Kameras inzwischen offenbar wimmelte. Der strenge, eckige Gebäudeteil, in dem das Rathaus untergebracht war, schien noch intakt zu sein, obwohl dort so gut wie alle Fenster herausgebrochen waren. Das Opernhaus hatte die volle Wucht der Explosion abbekommen. Der Fernsehsprecher war im ständigen Austausch mit Berichterstattern vor Ort. Es war die Rede von Dutzenden Verletzten und Schwerverletzten. Über die Zahl der Toten konnte noch nichts gesagt werden.
Das Lokal hatte das typische Interieur einer alten Amsterdamer Kneipe, mit langem, messingverziertem Tresen, Zapfhähnen für verschiedene Biersorten, einem Spiegel in gleicher Länge wie der Tresen und einem großen Flaschenaufgebot an
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