Ein gutes Herz (German Edition)
neues Herz davon erlösen würde, doch dem war nicht so. Die Explosion im Opernhaus war ein Anschlag, und die Flugzeugentführung hatte etwas damit zu tun. Er wusste nicht, welche Forderungen gestellt wurden, aber in Den Haag saßen jetzt Leute, die sie auf einem Bildschirm vor sich hatten. Waren die Forderungen telefonisch ans Kabinett gelangt oder gemailt oder gesimst worden? Wenn auf dieser Ebene zugeschlagen wurde, nahmen die Minister das Heft gleich selbst in die Hand. Innenministerium, Justiz, Premier. Vielleicht, wenn die Sache aus dem Ruder lief, sogar das Verteidigungsministerium.
Draußen, auf der still gewordenen Utrechtsestraat, wählte er Sonjas Handynummer. Es hatte ihn heute Morgen zwanzig Minuten gekostet, sie ausfindig zu machen. Ihre Mailbox sprang sofort an, das geschah nur, wenn jemand gerade im Gespräch war. Sie hatte die vorprogrammierte Telefonstimme nicht durch einen selbst auf Band gesprochenen Text ersetzt. Er hinterließ keine Nachricht. An den Türrahmen gelehnt, wartete er zehn Minuten und rief erneut an. Wieder die Mailbox.
Zwei Minuten später rief sie zurück.
»Sie haben angerufen. Wer sind Sie?«
Sonjas Stimme. Etwas laut und angespannt.
»Max«, sagte er. »Hier ist Max.«
Sie unterbrach die Verbindung.
*
»Hallo, Lia. Hier ist Nathan.«
»He, Naat, wie schön!«
»Hallo. Was machst du gerade?«
»Nichts Besonderes. Bisschen facebooken. Für morgen ist alles klar. Du bist nicht online, sehe ich gerade.«
»Nein. Ich bin kurz in der Stadt.«
»Was machst du da?«
»Ach, einfach so, bisschen rumgucken. In der Stopera ist was passiert.«
»Ja. Mama hat den Fernseher angemacht. Sie hat dort vorige Woche noch eine Aufführung gesehen.«
»Echt?«
»Ja. Sie war in einem Konzert.«
»Da hat sie Glück gehabt.«
»Was willst du denn jetzt da?«
»Nur ’n bisschen gucken. Einfach so. Hättest du Lust zu kommen?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, in die Stadt…«
»In die Stadt? Mama macht schon das Abendessen.«
»Nur ’n bisschen chillen.«
»Wenn ich sie frage, sagt sie sowieso nein.«
»Dann fragst du sie eben nicht.«
»Das geht nicht, Naat.«
»Wir könnten ins Kino gehen. Und zum Mc.«
»Das wär echt cool, aber…«
»Man lebt doch nur einmal.«
»Mama sagt, dass man wiedergeboren wird, wenn man gestorben ist.«
»Also meine Mama sagt, dass sie noch nie jemandem begegnet ist, der wiedergeboren wurde.«
»Ich darf sowieso nicht.«
»Geh doch einfach. Ich hab zweihundert Euro.«
»Cool…«
»Kommst du?«
»Ich kann wirklich nicht, Naat. Morgen ist doch meine Party.«
»Wir fangen heute schon an zu feiern.«
»Ich würde echt gern, weißt du, aber Mama erlaubt das nie. Und wenn Papa nach Hause kommt und ich bin nicht da… Nee, da wären sie echt total sauer. Deine Mutter wäre doch auch sauer, oder?«
»Ja, stimmt…«
»Okay, wir sehen uns morgen in der Schule.«
»Okay.«
»Okay.«
Lia legte auf. Sie hatte ja recht. Klar, dass sie nicht kommen konnte. Aber ich hatte gedacht, dass vielleicht eine Chance bestehen würde, eine ganz kleine. Ob sie mich jetzt für einen Spinner hielt? Keine Ahnung.
Ich guckte mich um. Die vielen Leute, die zum Bahnhof gingen. Keine Straßenbahnen. Nur Taxis fuhren noch. Ich sah, dass Mama noch ein paarmal angerufen hatte. Ich stellte mein BlackBerry auf Vibration. Da bekam ich wenigstens mit, wenn einer anrief. Vielleicht rief Lia ja doch noch an, dass sie kommen würde.
Ich guckte nach, ob das Geschenk für sie noch in meinem Rucksack war. Ja, zum Glück. Ich packte die Uhr aus und fand, dass sie wirklich eine schöne Form hatte. Ich dachte: Ich binde sie mir um, dann spürt Lia morgen noch ein bisschen meine Haut.
Dann stand ich auf und ging in die Kalverstraat. Wenn ich von dort zur Leidsestraat und über Leidseplein und Museumplein weiterging, war ich in einer guten halben Stunde zu Hause. Mit der Straßenbahn wär’s natürlich schneller gegangen, aber auch nicht sehr viel, denn die hielt ziemlich oft. Aber Straßenbahnen fuhren jetzt keine. Mein Handy vibrierte. Schon wieder Mama. Shit. Ich ging nicht dran.
Es war später Nachmittag, und viele Leute wollten nach Hause. Die gingen jetzt alle zu Fuß durch die Innenstadt. Wenn ich zur Leidsestraat wollte, musste ich auf der Hälfte der Kalverstraat nach rechts abbiegen, aber wenn ich geradeaus zum Muntplein weiterging, konnte ich da vielleicht mal zur Stopera rübergucken.
*
Sonja rief nicht zurück, und es hatte keinen Sinn, ihre Nummer noch
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