Ein gutes Herz (German Edition)
konnte.
Als Kichie sich wieder auf der Sitzbank gegenüber von Boujeri niederließ, sagte der Dschihadist: »Das hättest du nicht zu tun brauchen. Und trotzdem hast du es getan. Warum?«
Kichie wusste einen Moment nicht, was er sagen sollte. Er hatte in Boujeris Stimme Dankbarkeit vernommen.
Kichie zuckte die Achseln, was sinnlos war, da Boujeri ihn ja nicht sehen konnte.
»Jeder Mensch hat ein Recht auf Schuhe. Wir sind keine Tiere«, sagte er.
Boujeri blieb ungerührt. Nach einigen Sekunden sagte er: »Warum lebst du nicht wie ein Muslim? Du hast die Menschlichkeit eines Muslim.«
»Ich bin Berber«, antwortete Kichie.
Er hatte das noch nie ausgesprochen. Er hatte gelesen und gedacht. Er hatte die neue Identität erworben, sie aber nie dadurch bekräftigt, dass er sie offen benannte.
»Ich bin Berber«, sagte er noch einmal. Er hörte seine eigene Stimme. Er hatte keine Zweifel.
»Berber sind meine Brüder«, erwiderte Boujeri. »Aber nur als Muslim kannst du Frieden finden. Allah ist der Erbarmer, der Barmherzige, der einzige und absolute Herrscher, der Beschützer, der Schöpfer, der Lebensspendende, der Erste ohne Beginn und der Letzte ohne Ende, der Wohltäter. Du hast dich von Allah leiten lassen, als du dich gebückt hast, um mir Schuhe zu geben. Das hat Allah durch deine Hände getan.«
»Man glaubt, was man glauben möchte, Mo.«
»Ich möchte mit dir zusammen den Koran lesen.«
»Ich bin ein alter Berber, Junge. Gib dir keine Mühe.«
»Du hast zwei Männer getötet«, sagte Boujeri.
Kichie schüttelte den Kopf. Der Junge dachte, er könnte ihn in die Moschee luchsen. Das war die Eröffnung.
»Dafür hat man mich verurteilt.«
»Warst du denn unschuldig?«
»Das spielt keine Rolle. Es musste sein. Ich wusste, was mich das kosten könnte. Ich hatte Pech. Und die Konsequenzen habe ich akzeptiert.«
Boujeri schlug eine andere Richtung ein. »Du konntest mir die Turnschuhe anziehen. Trägst du keine Handschellen?«
»Nein.«
»Wirst du gleich freigelassen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kichie.
»Ich glaube, du darfst gehen. Weißt du etwas über die Flugzeugentführer?«
»Nein.«
»Sie sind meine Brüder, glaube ich.«
»Was habe ich damit zu tun, Mo?«
»Vielleicht haben sie gesagt, dass alle inhaftierten Muslime freigelassen werden sollen.«
»Dann dürfte es im Knast aber ziemlich still werden. Ich hatte nicht mehr lange. Zehn Monate. Und du sitzt seit acht Jahren, oder?«, fragte Kichie. »Wie alt bist du jetzt?«
»Vierunddreißig.«
»Vierunddreißig«, wiederholte Kichie. »Bis dass der Tod eintritt.«
»Ich bin auf dem Weg in die Freiheit«, sagte Boujeri.
»Wenn ich dich da so sitzen sehe, festgezurrt, als wärst du ein wildes Tier, scheint mir das illusorisch zu sein, Junge. Aber vielleicht hast du ja recht.«
»Ich habe mächtige Freunde«, sagte Boujeri.
Kichie konnte es nicht für sich behalten: »Ich habe diesen van Gogh mal kennengelernt.«
Boujeri ließ einige Sekunden verstreichen. »Es galt nicht ihm persönlich.«
»Van Gogh dürfte es aber als ziemlich persönlich empfunden haben, schätze ich«, erwiderte Kichie. »Du hast ihn enthauptet. Das würde ich schon persönlich nennen.«
»Ich konnte nicht anders. Die Scharia ließ mir keine Wahl. Er hatte den Propheten, Sallallahu alaihi wa sallam, beleidigt und verhöhnt. Wenn ich ein guter Muslim bin, kann ich die Verhöhnung des Propheten, Sallallahu alaihi wa sallam, nicht hinnehmen. Van Gogh wusste, was er tat. Er hat diese afrikanische Hexe unterstützt und ihr geholfen. Er wusste, welche Strafe die Scharia den Gläubigen auszuführen aufträgt, wenn der Glaube geschmäht wird.«
»Hast du dich je gefragt, was ein Glaube taugt, der so etwas von seinen Anhängern verlangt?«
»Unbegreiflich, dass du so etwas sagst«, entgegnete Boujeri voller Abscheu. »Die Wahrheit kann niemals nicht taugen. Es geht um die Wahrheit Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen.«
»Warum wiederholst du die ganze Zeit diese Attribute, wenn du ›Allah‹ oder ›Prophet‹ sagst?«
»Das weißt du doch ganz genau. Stell keine Scheinfragen. Akzeptiere, dass ich meine Wahrheit habe.«
»Aber du akzeptierst die Wahrheit anderer nicht.«
»Es gibt nur eine Wahrheit. Wer die nicht hat, ist irregeleitet oder irrt selbst.«
»Du machst dir doch was vor. Du bist intelligent genug, um das zu wissen.«
»Allahu akbar. Darum geht es. Darum kreist das Universum. Alles. Das Leben. Der Tod. Alles ist dem unterworfen. Allahu
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