Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Titel: Ein Hummer macht noch keinen Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Wekwerth
Vom Netzwerk:
nichts sehen zu können, und sie wusste, dass gleich irgendwas unvorstellbar Gruseliges passieren musste. Dies war ja schließlich eine Geisterbahn, und …
    »Waaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!«, schrie sie, noch bevor sie dem Anblick eines gehängten Gerippes in grüngelber Beleuchtung ausgesetzt wurde. Gelächter erklang, dermaßen schauderhaft, dass sie sich die Ohren zuhalten musste und gar nicht mitbekam, dass es Theodor war, der da neben ihr so lachte. Dann fiel eine zerlumpte Hexe von der Decke, riss sich den Kopf ab und war wieder verschwunden. Natalie schrie immer weiter, schrie noch lauter, als der Wagen sein Tempo erhöhte und auf einige blutverschmierte Mumien zuraste, die im letzten Moment zur Seite kippten. Nebel kam auf.
    »Hören Sie doch bitte auf, so zu schreien«, bat Theodor.
    Natalie verstummte. Sie rang nach Atem, spürte, dass in ihrem Magen literweise Met und Glühwein revoltierten, ihre Blase sendete ähnliche Signale, ihr Herz schien völlig außer Kontrolle. Und dann hörte Natalie etwas, das so schrecklich klang, dass sie auf Theodors Schoß klettern und dort lauthals weiterschreien musste. Es war eindeutig das mordlustige Kichern eines … Zwerges, das trotz ihres eigenen Gekreisches bedrohlich nahe an ihr Ohr drang. So konnten nur Zwerge kichern. Als Natalie, an Theodors Hals geklammert, ganz kurz die Augen öffnete, sah sie direkt in ein böse verzerrtes, schmutziges Gesicht. Sie brüllte so laut, dass Theodor in den folgenden sieben Tagen ein hohes Pfeifgeräusch im linken Ohr vernehmen sollte, das überaus lästig war.
    Der Zwerg hob die kurzen Ärmchen, krächzte »Hu-hu-huuu! Ich komme wieder«, dann sprang er vom Wagen und verschwand zwischen Spinnweben und Nebelschwaden. Natalie glaubte, ohnmächtig zu werden, was ihr eigentlich ganz gelegen kam, doch die Sorge, damit auch die Kontrolle über Magen und Blase zu verlieren und einen liebeskranken Therapeuten mitten in der Geisterbahn ihren Körperausscheidungen auszusetzen, hielt sie davon ab. Dafür schrie sie voller Entsetzen so lange weiter, bis das Wägelchen endlich, endlich wieder ins Freie gekommen war.
    »Gestatten Sie?« Vorsichtig löste Theodor Natalies Finger, die sich in seinen Nacken gekrallt hatten.
    »Der Zwerg«, keuchte Natalie und kletterte mit weichen Knien aus dem Wagen. »Ich habe ihn gesehen.«
    Und dann rannte sie durch den stärker werdenden Regen zu einem Dixie-Klo, in dem es eigentlich noch schlimmer zuging als in der Geisterbahn. Hinterher fühlte sie sich erschöpft. Sie war heiser und hatte Halsschmerzen.
    »Wir sollten nach Hause gehen«, sagte Theodor.
    »Der Zwerg …«, sagte Natalie wieder.
    »Ja, der ist kurz vor Schluss hinten auf den Wagen gehopst.«
    »Meinen Sie, der war echt ?«
    Theodor sah sie durchdringend an. »Es gibt keine echten Zwerge. Das war ein kleinwüchsiger Mensch, was denn sonst?«
    Natalie versuchte das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu kriegen. »Kleinwüchsige werden in die Geisterbahn gesteckt?«
    »Warum nicht? Vielleicht ein Student, der sich etwas Geld verdient.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Was glauben Sie denn?«
    »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
    Theodor war müde. Außerdem regnete es ihm in den Kragen. »Kommen Sie, das war ein langer Tag. Wir teilen uns ein Taxi.«
    »Und er hat gesagt: ›Ich komme wieder‹«, fuhr Natalie fort.
    »Sehr originell. Da hinten stehen die Taxen.«
    »Das kann doch kein Zufall sein!«
    Du liebe Güte, dachte Theodor. Das ist wohl nach hinten losgegangen, mit den Ängsten, denen man sich stellen muss.
    »Ich glaube, wir haben beide zu viel getrunken und sollten schlafen gehen«, sagte er und nahm sie sanft am Ellenbogen. Natalie ließ sich führen. Während der Fahrt im Taxi sagte niemand etwas. Auch der Fahrer hielt zum Glück den Mund. Regen lief an den Scheiben hinab. Wie Tränen, dachte Theodor.
    Dann hielt der Wagen in der Charlottenburger Schloßstraße. Natalie stieg aus und kramte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. »Ist schon gut«, rief Theodor ihr zu und gab dem Fahrer ein Zeichen weiterzufahren. »Gute Nacht!«
    Natalie winkte dem davonbrausenden weißen Mercedes hinterher und wusste, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt hatte.
    ▶◀
    Es regnete nicht mehr lange in dieser Nacht. Die schweren Tropfen wurden von sanftem Niesel abgelöst, der dann auch verging. Gegen Morgen stiegen plötzlich die Temperaturen. Ein subtropisches Klima legte sich wie eine Glocke über Berlin,

Weitere Kostenlose Bücher