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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Regeniter
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du gerade einem Charles-Dickens-Roman entstiegen!“ Ich fühle mich eher, als wäre ich auf dem Weg zum Rosenmontagszug, aber verglichen mit Mr Thomson, der in Frack, Fliege und Zylinder gekleidet ist, sehe ich noch dezent aus.
    „Meint ihr nicht, eure Garderobe ist ein bisschen übertrieben?“, fragt Elli.
    „Im königlichen Palast kann man niemals fein genug aussehen“, entgegnet Mr Thomson, doch ich bekomme auch langsam einige Zweifel, die sich bestätigen, als uns das Taxi eine halbe Stunde später vor Buckingham Palace absetzt.
    Hunderte von anderen Gästen warten schon vor den Toren auf Einlass, und zu meinem Schrecken sind alle normal gekleidet. In normalen Kleidern von normalen Geschäften wie Marks and Spencer oder C & A.
    „Und woher kommen Sie?“, spricht mich die Frau neben uns an.
    „Ich mag Ihr Kostüm, sehr exotisch! Lassen Sie mich raten: Bulgarien? Lettland?“
    Eileen unterdessen wird immer nervöser und fragt zum hundertsten Mal, ob ihr Hut noch richtig sitzt.
    Und dann bemerkt sie etwas, was ihr die letzte Farbe aus dem Gesicht vertreibt.
    „Wieso ist eigentlich die königliche Flagge nicht gehisst? Wenn die Queen hier ist, weht doch sonst immer die Fahne über dem Palast?“
    „Vielleicht musste sie noch schnell einkaufen fahren“, murmelt Mr Thomson, aber Eileen ist nicht zu Späßen aufgelegt.
    „Entschuldigung, Sir“, spricht sie die Leute neben uns an. „Ist die Queen etwa noch gar nicht anwesend?“
    Die sehr vornehm aussehende Lady zu unserer Rechten lächelt überheblich.
    „ Of course not. Wissen Sie denn nicht, dass die Queen heute die Commonwealth-Spiele in Australien eröffnet? So schnell kann selbst unsere Monarchin nicht fliegen, dass sie rechtzeitig wieder hier sein könnte.“
    Für Eileen bricht eine Welt zusammen.
    „Das kann doch wohl nicht wahr sein, da schaffe ich es einmal in den Palast und die Alte hält es nicht mal für notwendig, anwesend zu sein.“ Die anderen Gäste starren uns entgeistert an bei dieser etwas ordinären Bemerkung, aber Eileen lässt sich nicht einschüchtern. Den ganzen Morgen hat sie sich bemüht, so vornehm wie möglich zu erscheinen, und jetzt das! „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nicht meinen ganzen Lohn für diesen Tag ausgegeben. Dass man mir das aber auch nicht früher mitteilen konnte.“
    Ich bemühe mich, sie mit dem Gedanken an das kommende Festmahl zu trösten, und überhaupt, so versuche ich sie zu überzeugen, sei es doch trotzdem toll, einfach mal in den Palast reinzukommen. Aber Eileen ist geknickt.
    Die Lady von vorher ergreift wieder das Wort.
    „Prinz Charles wird die Ehrungen übernehmen, also ganz leer gehen Sie nicht aus.“
    Pünktlich um elf Uhr öffnen sich schließlich die riesigen Tore vor Buckingham Palace und die Menge bewegt sich langsam auf den Innenhof des Palastes zu. Die Guards mit ihrenBärenpelz-Hüten starren genauso desinteressiert wie immer vor sich hin, während Sicherheitsbeamte unsere Pässe und Einladungskarten zur „Investitur“ prüfen und alles von japanischen Touristen gefilmt wird. Doch die müssen draußen bleiben.
    Eileen und die anderen Ehrengäste werden in einen speziell für sie vorbehaltenen Raum gebeten, während Mr Thomson und ich uns den anderen Normalbürgern zugesellen und in einen großen Saal mit riesigen Kronleuchtern und rotem Teppich eintreten. Die Decke ist höher als unser vierstöckiges Haus in Primrose Hill.
    „Muss ziemlich teuer sein, das hier zu heizen“, bemerkt Mr Thomson.
    Auf einem Balkon spielt ein Streichquartett und uniformierte Offiziere prüfen unsere Einladungen und weisen uns dann zu unseren Sitzplätzen. Die roten, samtbezogenen Stühle sehen so wertvoll aus, dass ich mich kaum traue, mich hinzusetzen.
    Mr Thomson ist auch ganz still geworden, und wir warten andächtig auf den Beginn der Feier. Ich schaue mich nach Berühmtheiten um, denn schließlich zeichnet die Queen mit Vorliebe auch Sportler, Musiker und Schauspieler aus, doch bis auf einen Mann vor mir, der wie ein entfernter Verwandter von Mr Bean aussieht, erkenne ich niemanden. Ob ich noch schnell einen Toilettenbesuch einschieben kann? Wer weiß, wie lange diese Ehrungen dauern.
    „Where is the Ladies, please? Wie kommt man bitte zur Toilette?“, frage ich einen der Guards.
    Er antwortet nicht, sondern weist mit seiner Mütze in Richtung eines kleinen Ganges. Die marmorgefliesten Toiletten sind so sauber, dass man ohne Bedenken vom Fußboden essen könnte. Ob dies die

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