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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Haus gegangen war, hatte sie sich gerade für die Klinik fertig gemacht.
    »W o wurdest du geboren?«, fragte Thais.
    »H ier in New Orleans«, antwortete ich. »D u nicht?«
    Thais runzelte die Stirn. »N ein. In Boston.«
    Racey hob die Augenbrauen. »D a muss jemand einen sehr coolen Trick auf Lager gehabt haben.«
    Ein Gong kündigte die erste Stunde an. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich irgendwann schon mal so wenig Lust gehabt hatte, in ein Klassenzimmer zu gehen, wie jetzt gerade, und in meinem Fall wollte das schon etwas heißen. Mir war nur danach, heimzugehen, Nan zur Rede zu stellen und sie zu fragen, wieso eine vollkommen Unbekannte in meiner Schule, in meiner Stadt, mit meinem Gesicht aufgetaucht war. Doch ich würde warten müssen, bis sie heute Abend nach Hause kam.
    »J a, das ist wirklich alles ein Rätsel«, sagte Ms DiLiberti und stand auf. »I hr zwei müsst offensichtlich noch eine Menge über euch herausfinden. Aber jetzt schreibe ich erst mal eine Entschuldigung für eure Lehrer und dann geht ihr in die erste Unterrichtsstunde.«
    Ich warf einen Blick auf meinen Stundenplan. »I ch habe amerikanische Geschichte.«
    Thais wirkte immer noch geschockt, und ihre Blässe ließ das Muttermal noch stärker hervortreten, als hätte sie einen roten Tintenklecks auf der Wange. »I ch habe Englisch.«
    »N a dann mal los, Mädchen«, sagte Ms DiLiberti energisch und gab uns einen pinken Zettel. »D u auch, Racey. Ich kann es kaum erwarten, zu hören, wie sich das alles noch aufklären wird.«
    »I ch auch nicht«, murmelte ich und raffte mein Zeug zusammen.
    »I ch auch nicht«, sagte Thais. Es klang, als hätte man ein Tonband zurückgespult.
    »I ch auch nicht«, sagte Racey und Thais sah sie an, als würde sie sie zum ersten Mal bemerken. »I ch bin Racey Copeland.«
    »I ch weiß nicht, wer ich bin«, erwiderte Thais leise, und plötzlich tat sie mir leid. Und ich mir selbst auch. Wir beide taten mir leid.
    »W ir werden es herausfinden«, sagte ich.

    Nan kam erst um kurz vor sechs Uhr nach Hause. Wenn sie lange arbeitete, war ich für das Abendessen zuständig, was wir als »N otfall-Dinner« bezeichneten, denn Kochen war eine andere Kunstfertigkeit in Sachen Haushalt, die ich nicht besonders gut beherrschte.
    Heute Abend bestand das Emergency-Dinner aus Tiefkühlpizza und Salat. Ich riss einen Salatkopf auseinander und holte eine Tomate aus unserem Garten hinter dem Haus. Tadaaa.
    Seit ich durch die Tür getreten war, fühlte ich mich hyperangespannt. So sehr, dass meine Schultern buchstäblich schmerzten. Eigentlich hatte ich André nachmittags treffen wollen. Ich wäre endlich mit in sein Apartment gegangen– und wer weiß, was dann passiert wäre. Aber jetzt konnte ich einzig und allein daran denken, dass eine Doppelgängerin von mir in New Orleans herumlief, genauso aussah wie ich und genauso klang. Und doch war sie nicht ich. Natürlich konnte sie nichts dafür, aber ich fühlte mich wie eine Versace-Tasche, die plötzlich eine Vinylimitation von sich an einer Straßenecke entdeckt hatte.
    Ruhelos lief ich im Haus auf und ab. Meine Kiefer schmerzten, so fest presste ich sie aufeinander. Ich vermisste André. Ich wollte zu ihm, wollte, dass er mich alles vergessen ließ. Stattdessen zählte ich die Minuten, bis meine Großmutter nach Hause kam.
    Endlich stieß sie das vordere Gatter auf: Ich fühlte ihre Anwesenheit. Doch ich lief ihr nicht entgegen, sondern wartete, bis sie den Schlüssel im Schloss umgedreht hatte und hereinkam. Sie sah müde aus. Als sie mein Gesicht sah, richtete sie sich alarmiert auf.
    »W as ist los?«, fragte sie. »W as ist passiert?«
    Das war der Moment, in dem Clio Martin, die Königin der Stoiker, die nie in der Öffentlichkeit– und eigentlich auch sonst nie– weinte, in Tränen ausbrach und ihrer Großmutter in die Arme fiel.
    Nan war so verblüfft, dass sie einen Moment brauchte, um die Umarmung zu erwidern.
    Ich trat einen Schritt zurück und blickte sie an. »I ch bin ein Zwilling !«, schrie ich. »I ch habe eine eineiige Zwillingsschwester!«
    Zu sagen, dass ich Nan kalt erwischt hatte, wäre eine riesige Untertreibung gewesen. Es haute sie vollkommen um, und glaubt mir, Nan war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Normalerweise erweckte sie immer den Eindruck, als habe sie alles bereits vorausgesehen, als könne nichts sie erschüttern oder aufregen. Auch in der zweiten Klasse, als ich auf Wassermelonenkernen ausgerutscht war und mir den

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