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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Kopf auf der Betonveranda unserer Nachbarn aufgeschlagen hatte, hatte Nan einfach ein paar Eiswürfel in ein Küchentuch gewickelt, gesagt, dass ich es gegen die schmerzende Stelle gedrückt halten solle, und mich ins Krankenhaus gefahren. Unser Nachbar hätte damals fast einen Nervenzusammenbruch gehabt.
    Aber das jetzt hatte sie wirklich schockiert. Ihr Gesicht wurde weiß und sie taumelte ein paar Schritte nach hinten. »W as?«, fragte sie schwach.
    Okay– die meisten Leute, die ihrer Großmutter erzählten, dass sie einen Zwilling hatten, würden ein Lachen zu hören bekommen und ein: »A ch Quatsch, hast du nicht.«
    Also war das hier gar nicht gut.
    Nan schwankte und ich konnte gerade noch rechtzeitig einen Stuhl hinter sie stellen. Sie griff nach meinen Händen, hielt sie fest und sagte: »C lio, wovon redest du?«
    Immer noch schluchzend, setzte ich mich auf einen anderen Stuhl. »E s gibt eine zweite Ausgabe von mir in der Schule! Heute Morgen hat man mich ins Sekretariat gerufen, und da stand ich, aber mit Haarschnitt! Nan, verstehst du, wir sehen identisch aus! Wir sind genau gleich, außer dass sie ein Yankee ist. Sie hat sogar das gleiche Muttermal! Ich meine, was zur Hölle ist da los?« Meine letzten Worte gingen in ein völlig Clio-untypisches Kreischen über.
    Nan sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen, wobei ich wetten würde, dass der sie nicht so erschreckt hätte. Sie schluckte und brachte immer noch kein Wort hervor.
    Irgendetwas an diesem Anblick war entsetzlich verkehrt. Es fühlte sich an, als würden wir beide hier sitzen und auf einen Hurrikan warten, der unser Haus aus seinem Fundament riss und mit sich fegte. Ich hörte auf zu weinen, starrte sie an und dachte: Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott. Sie wusste es.
    »N an…«, sagte ich, dann hielt ich inne.
    Sie schien langsam zu sich selbst zurückzufinden, schüttelte den Kopf und fixierte mich. Ein wenig Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, doch sie sah noch immer völlig kaputt aus. »C lio«, sagte sie in einer uralt klingenden Stimme. »S ie hat dasselbe Muttermal wie du?«
    Ich nickte und berührte meinen Wangenknochen. »I hres ist auf der anderen Seite. Es sieht genauso aus wie meins. Nan– rede mit mir.«
    »W ie heißt sie?« Nans Stimme war dünn und angestrengt, kaum mehr als ein Flüstern.
    »T hais Allard«, sagte ich. »S ie sagte, ihr Dad sei gerade erst gestorben und sie würde bei einer Freundin von ihm wohnen. Vorher hat sie in Connecticut gelebt. Sie sagt, sie sei einen Tag nach mir in Boston geboren worden.«
    Nan legte sich einen Finger auf die Lippen. Ich sah, wie sie lautlos den Namen Thais formten. »M ichel ist tot?«, fragte sie traurig und wie von weit her.
    »D u kanntest ihn? War er… Das war nicht mein echter Dad, oder? War er nicht einfach nur jemand, der Thais adoptiert hat?« Ich fühlte mich, als würde mir der letzte Rest Zurechnungsfähigkeit gleich abhandenkommen. »N an, erklär mir das. JETZT !«
    Endlich sah ich einen Funken des Wiedererkennens in ihren Augen aufblitzen. Sie sah mich mit ihrem vertraut scharfen Blick an und nun erkannte auch ich sie wieder.
    »J a«, sagte sie mit festerer Stimme. »J a natürlich, chérie. Aber zuerst… zuerst muss ich noch ganz schnell ein paar Dinge erledigen.«
    Während ich mit herunterhängendem Unterkiefer dasaß wie ein Großmaulbarsch, sprang sie mit der für sie typischen Energie auf. Eilig ging sie in ihr Arbeitszimmer, und ich hörte, wie die Schranktür aufschlug. Ich saß einfach nur da, unfähig, mich zu rühren oder irgendetwas anderes zu tun, als immer wieder die gleichen verheerenden Gedanken in meinem Gehirn abzuspulen: Ich habe eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Vielleicht hatte ich bis zu diesem Sommer auch einen Vater. Ich würde Nan teilen müssen. Nan hat mich mein ganzes Leben lang belogen.
    Wieder und wieder kreisten meine Gedanken um sich selbst und brannten sich als Muster in meinen Verstand ein.
    Wie betäubt sah ich Nan aus dem Zimmer kommen. Sie trug einen schwarzseidenen Talar, denselben, den sie immer bei besonders wichtigen Projekten anhatte oder wenn sie unseren monatlichen Hexenzirkel leitete. Sie hielt ihren Zauberstab in der Hand, ein schmales Stück Zypressenholz, kaum dicker als mein kleiner Finger. Sie sah mich nicht an, sondern sammelte sich und begann einen altfranzösischen Sprechgesang, von dem ich nur ein paar Worte verstand. Ihr erster Zirkel, Hexenflammen, hatte, wie ich von ihr wusste, immer

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