Ein Kelch voll Wind
sein, war seltsam, aber wenigstens fühlte es sich hier vertrauter an als im Rest meines Lebens.
»E s ist mehr als das«, sagte Sylvie. »D u bist richtig nett.«
Ich zuckte zusammen. »A utsch.«
Sie grinste. »N a ja, nicht schleimig nett. Aber du nutzt die Leute nicht aus, verstehst du? Ich will damit nicht sagen, dass Clio irgendwie gemein ist. Mir gegenüber jedenfalls nicht. Aber sie war immer eins der wirklich beliebten Mädchen. Die anderen wollen so sein wie sie und die Jungs wollen mit ihr ausgehen, wie sie ganz genau weiß. Und sie steigt voll darauf ein.«
Sylvie hielt inne, als würde ihr gerade erst bewusst, dass sie über meine Schwester sprach, als würde sie meine Gefühle nicht verletzen wollen.
Ich dachte an mein Leben in Welsford. Dort war ich eins der beliebten Mädchen gewesen und die Jungs hatten mit mir ausgehen wollen. Ich wusste, dass die Leute mich für hübsch gehalten hatten. Aber in gewissem Sinne hatte ich nie gewusst, wie hübsch ich tatsächlich war, bis ich Clio zum ersten Mal gesehen hatte. Ich beobachtete, wie die Leute auf sie reagierten, und ich begriff, dass man auch auf mich so reagieren würde. War es das, was Luc gesehen hatte? Zum neunmillionsten Mal an diesem Tag dachte ich an seinen Kuss. Sogar bei Petra zu Hause hatte ich immer und immer wieder an ihn denken müssen, während ich der unglaublichen Geschichte meiner Familie gelauscht hatte. Was würde das nächste Mal passieren, wenn ich ihm begegnete? War ich bereit dafür?
»W oran denkst du?«, fragte Sylvie hinter vorgehaltener Hand.
»A ch– nur an zu Hause, weißt du?«, sagte ich und verbannte Luc aus meinen Gedanken, bevor ich rot werden konnte. »E s war so anders als hier. Meine Schule war sehr klein und wir hatten alle denselben Kindergarten besucht. Niemand war so viel besser oder schlechter als irgendein anderer. Hübsch oder beliebt zu sein, hat einen nicht besonders weit gebracht.«
Die Ecole Bernardin war ungefähr zehnmal so groß wie meine alte Schule, und schon an meinem zweiten Tag konnte ich die Abstufungen der Hackordnung genau erkennen. Clio und ihre Freundinnen standen an der Spitze.
Ich fragte mich, wo ich wohl landen würde.
Axelle wartete an der Wohnungstür auf mich. Sie ging auf und ab und rauchte wie ein Schlot. Als ich hereinkam, trafen sich unsere Blicke. Eine ganze Welt des Wissens lag darin.
»P etra hat angerufen«, sagte sie.
Ich marschierte an ihr vorbei, legte meinen Rucksack in meinem Zimmer ab und kam dann hinaus in die Küche, um mir ein Glas Mineralwasser einzuschenken. Endlich drehte ich mich zu ihr um. Ich zitterte förmlich. Egal, was Petra gesagt hatte, ich musste Axelle selbst fragen.
»H ast du meinen Vater getötet?« Meine Stimme klang eisig. So hatte ich mich selbst noch nie gehört.
»N ein.« Axelle runzelte die Stirn. »I ch habe ihn nicht mal gekannt.«
»W ie bin ich dann hier gelandet?« Mein Schrei überraschte uns beide.
Axelle sah aus, als wolle sie sich verteidigen. »W ir… haben wegen Clémence Kontakt zu deinem Vater gehalten«, sagte sie. »N achdem er… unerwartet verstarb, dachten wir, es sei das Beste, wenn du hierherkämst, wo du Menschen aus deiner famille um dich hast. Ich gebe zu, ich habe nach dem Tod deines Vaters ein paar Beziehungen spielen lassen. Es war wichtig, dich hierherzubekommen. Und ganz im Ernst, findest du nicht auch, dass es zu deinem eigenen Besten war? Bist du nicht froh, deine Schwester getroffen zu haben? Und deine… Großmutter?«
»N atürlich«, stieß ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »A ber du hast das alles hinter meinem Rücken arrangiert. Wenn ich in der Schule nicht zufällig in Clio hineingelaufen wäre, wüsste ich immer noch nichts von meiner Schwester und meiner Großmutter. Wann hattest du denn vor, mir davon zu erzählen?«
Axelle brauchte einen Moment, um zu antworten. Ich konnte förmlich sehen, wie sich hinter ihrer Stirn die Zahnräder drehten. »J e weniger du weißt, desto sicherer ist es für dich«, sagte sie schließlich. »N atürlich hätte ich dich eingeweiht– wenn die Zeit reif dafür gewesen wäre. Du hast es einfach nur ein bisschen früher herausgefunden, das ist alles. Der Rest wird sich beizeiten klären.«
»D ann bist du also auch eine Hexe?«
»N atürlich«, gab Axelle zurück. »G enau wie du.«
Den letzten Satz ignorierte ich. »D u gehörst zur selben famille wie Petra?« Ich versuchte, das französische Wort so auszusprechen, wie meine Großmutter es
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