Ein Liebhaber wie Tony
Marc?«, erkundigte sie sich.
»Er dreht Steine um und sieht dann zu, wie die Sandkrabben auseinanderlaufen. Gehen wir heute fischen?«
Sharon hatte alles andere als Lust, mit baumelnden Beinen am Pier zu sitzen, Köder auszuwerfen und zappelnde Kabeljaus und kleine Hundshaie an Land zu ziehen. Viel lieber wollte sie ins Bett kriechen und sich ausheulen. Diesen Luxus aber konnte sie sich als Mütter nicht leisten.
»Aber natürlich«, antwortete sie deshalb. Sie hob das Kinn, straffte die Schultern und drehte sich lächelnd zu Brian um.
Erleichtert atmete das Mädchen auf.
»Ich befestige auch die Köder für dich«, bot es an.
Sharon lachte und umarmte Briana. »Du bist ein richtiger Glückstreffer, mein Schatz. Womit habe ich das eigentlich verdient?«
Vor Sharons geistigem Auge erschien Carmen mit ihrem Zahnpastalächeln, und es war, als würde sie die Frage beantworten: Verdient? Ich bin gestorben. Dadurch bist du an den Glückstreffer gekommen. Wo wärst du heute, wenn dieser betrunkene Autofahrer nicht gewesen wäre?
Sharon erschauerte, aber sie war entschlossen, ihre dunkle Stimmung abzuschütteln. In zwei Tagen musste sie Brian und Marc schon wieder an Tony abgeben und in ihr einsames Apartment zurückkehren. Sie konnte es sich nicht leisten, trüben Vorstellungen nachzuhängen und sich selbst leidzutun. Dafür war die Zeit, die ihr noch blieb, zu kostbar; sie würde viel zu schnell zerrinnen.
Sharon holte die Angelausrüstung, während Brian im Kühlschrank nach den Köderfischen suchte, die sie schon Wochen vorher in einem Anglerladen gekauft hatten.
Marc stieà drauÃen zu Sharon und seiner Schwester, und gemeinsam gingen sie zum Pier.
Brian stand zu ihrem Wort. Mit viel Geschick, das sie von Tony hatte, befestigte sie die Köder an den Haken.
In Wahrheit fand Sharon diese Arbeit gar nicht so ekelhaft, wie Brian dachte, aber sie wollte dem Kind die Freude, hilfsbereit zu sein, nicht nehmen.
»Danke, Brian«, sagte sie. »Ich bin froh, dass ich das nicht selber machen musste.«
»Frauen!«, bemerkte Marc mit seinen sieben Jahren Lebenserfahrung verächtlich.
Sharon musste sich ein Lächeln verkneifen, bevor sie mit gespielt ernster Miene sagte: »Soll ich meinen Standardvortrag über Chauvinismus halten?«
»Nein«, antwortete er knapp. Das war die Antwort eines modernen, aufgeschlossenen Kindes, das genau wusste, was Chauvinismus bedeutete.
Brian sah nachdenklich aus. »UrgroÃmutter isst nach wie vor in der Küche. Wie ein Dienstmädchen.«
Sharon suchte nach den richtigen Worten. Tonys GroÃmutter war in Italien aufgewachsen und sprach bis heute nicht sehr viel Englisch. Auch wenn sie an den alten Traditionen festhielt, hatte sie es neben vielen anderen Sachen geschafft, ihre sechs Kinder zu verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Diese Frau verdiente allen Respekt.
»Wusstest du, dass sie schon mit sechzehn Jahren nach Amerika kam? Sie konnte kein Wort Englisch, und die Heirat mit deinem UrgroÃvater hatte ihre Familie vorher bestimmt. Ich halte sie für eine sehr tapfere Frau.«
Brian dachte einen Moment nach.
»Glaubst du, meine Mutter war auch tapfer?«, fragte sie dann.
Obwohl Fragen wie diese in regelmäÃigen Abständen aufkamen, trafen sie Sharon jedes Mal wieder völlig unvorbereitet. Sie holte tief Luft und erwiderte: »Du weiÃt, dass ich sie nie kennengelernt habe, Sweetheart. Wäre es nicht besser, du fragst deinen Vater danach?«
»Glaubst du, er hat sie geliebt?«
Sharon zuckte nicht mit der Wimper. Sie konzentrierte sich darauf, die Angel gerade zu halten. »Ja, er hat sie geliebt. Sehr sogar.«
»Carl hat mir erzählt, die beiden haben nur geheiratet, weil Mom mit mir schwanger war. Seine Mutter erinnert sich noch daran.«
Carl war eines der vielen Mitglieder der groÃen Morelli-Familie. Irgendein Cousin zweiten oder dritten Grades und obendrein ein recht unangenehmer Zeitgenosse.
»Er weià nicht alles«, antwortete Sharon und fragte sich, warum diese Themen nie in Anwesenheit von Tony aufkamen. »Und seine Mutter auch nicht.«
Sharon seufzte. Oh ja, Tony konnte viel besser mit solchen Dingen umgehen. Er war der geborene Diplomat. Carmen und er hätten bestimmt ein perfektes Paar abgegeben. Mindestens ein halbes Dutzend Kinder mehr würden dann jetzt dem Familienclan angehören, und keine
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