Ein Mensch namens Jesus
fortzuziehen. Die Schaulustigen machten einen verunsicherten Eindruck.
Der Abend dämmerte heran. Die Einwohner von Kafarnaum machten sich in ihren Booten auf den Heimweg, die Leute aus Betsaida gingen zu Fuß. Vögel ließen sich auf der Anhöhe nieder und suchten Brotkrumen zu ergattern, Grasmücken waren es, verspätete Buchfinken und erste Grünfinken. Thomas beobachtete sie zerstreut und mißgelaunt. Eine Zeit ging zu Ende. Jesus’ Geduld wich Wutausbrüchen und Erschöpfung, wenn die Leute kamen, um sich von ihm heilen zu lassen. Galiläa mochte erobert sein, jedoch nur oberflächlich. Der eigentliche Kampf würde sich in Judäa abspielen. Und dann?
Wind kam auf, Jesus stieß einen Seufzer aus.
»Du siehst müde aus«, bemerkte Johannes.
»Das hätte Tage und Monate so weitergehen können«, sagte Jesus. »Und was hätte sich geändert? Diese Arbeit hier müßtet eigentlich ihr für mich übernehmen.«
»Wir haben es versucht und werden es weiter versuchen«, erwiderte Matthäus, »aber wir beherrschen das einfach nicht so wie du. Wir sind keine Heilkundigen.«
»Es weht ein guter Wind«, sagte Andreas. »Wir sollten ein paar frische Fische fangen. Sich nur von getrocknetem Fisch zu ernähren ist gar nicht gesund.«
»Ich glaube eher, ihr wollt nach Kafarnaum zurück«, meinte Jesus lächelnd. »Also gut, fahrt nur zu. Ich bleibe einige Zeit hier. Vermutlich werden wir die Racherufe für Jokanaans Tod bis nach Judäa hören. Ich komme dann wieder zu euch nach Kafarnaum. Wartet dort auf mich.«
Sie stiegen den Hügel hinab. Er sah ihnen zu, wie sie ins Boot stiegen, den Anker lichteten und das große Segel setzten, bevor sie dann nach rechts dem Sonnenuntergang entgegensteuerten.
Er blieb allein. Nach einer Weile durchlief ihn ein Schauer. Sicher, der Wind war frischer geworden, doch dies war nicht der Grund seines Fröstelns. Eine Kraft, die er die ganze Zeit über, als er von Menschen umgeben war, im Zaume gehalten hatte, bemächtigte sich nun seiner, unabhängig von seinem Willen. Ihm klapperten die Zähne, und er atmete tief durch, um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Seit langem war dies nicht mehr eingetreten; er hätte wissen müssen, daß es eines Tages wiederkehren würde. »Herr«, betete er, »wie einst finde ich Dich nun wieder. Sei gelobt, ich liebe Dich!« Die ihn durchrieselnden Schauer ließen die Worte nur stockend über seine Lippen kommen. Allerdings zählten sie auch kaum, nur »Liebe« wollte er sagen, das einzige Wort, das er kannte für jene unwiderstehliche Kraft, die er in allen Fasern seines Körpers spürte. Von Norden her zogen tiefliegende Wolken, Schiefertafeln gleich, in Windeseile dem Sonnenuntergang entgegen. Einen Augenblick lang blutete die Sonne durch ein Loch in diesem Leichentuch, und das Blut spritzte auf den schwarzen See, dann legte sich Dunkelheit über die Welt, und die Ufer vor Kafarnaum verschwanden in der rasch hereinbrechenden Nacht. Das Zittern ließ in dem Maße nach, als der Sturm an Wildheit zunahm; Jesus atmete im Einklang mit dem Wind, stark und heftig. Er gab jeglichen Widerstand auf, er fühlte sich leicht, und er erriet auch den Grand dafür: Er hatte jenes zugleich beruhigende und erhebende Gefühl wiedergefunden, das ihn immer überkam, wenn er die Erdanziehung überwand.
Ohne daß er es wollte, erhob er sich und glitt dem Strand entgegen. Ein Blitz vereinte Wolken und Wasser, dann noch einer, mehrere, und alle tauchten sie die Landschaft in die Farben des Todes. Er hörte Schreie, war das ein Mensch, der da »Wir gehen unter!« rief? Doch schon erkannte er Johannes’ Stimme und vernahm eine weitere, die befahl, das Segel zu reffen; Simon Petrus war das. Er schwebte den Strand entlang, kaum daß er dabei den Boden berührte. Die Wellen brachen sich vor ihm. Er schwang sich auf, und während seine Fußsohlen die Wellenkämme leicht streiften, bewegte er sich auf das Boot der Jünger zu, als schwimme er über dem Wasser. Sie durften jetzt nicht sterben, nicht jetzt, nein, nicht jetzt. Ein Blitz schlug in unmittelbarer Nähe ein und peitschte einen gischtsprühenden Schaumwirbel auf. Er erblickte das Boot, das sich gefährlich zur Seite neigte, wenn es nicht gerade bugüber in jähe Wellentäler hinabstürzte. Simon Petrus und Johannes entdeckten ihn als erste. Wie alle anderen hatten auch sie sich an das nächstbeste festverankerte Holzstück geklammert, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Die beiden Männer, der älteste und
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