Ein Mensch namens Jesus
verzieht beim Anblick ihrer Wunden. Ich werde die Menschen zwingen, das Fleisch ihrer Söhne und Töchter zu essen. Sie werden einander zerfleischen in der Hungersnot, in die ihre Feinde und alle, die ihren Tod wollen, sie während der Belagerung treiben.< Das steht im Buch Jeremia über Menschenfleisch!«
Mit steinernem Gesicht stand Jesus der restlichen Zuhörerschar gegenüber, die immerhin noch die Hälfte der Synagoge füllte.
»Er hat tatsächlich den Verstand verloren«, murmelte Thomas.
»Er ist der Messias«, hielt ihm Simon Petrus entgegen.
»Nein, er ist verrückt geworden«, widersprach Judas.
»Ja, verrückt«, bekräftigte Jakobus.
»Auf der Stelle verlasse ich diesen Ort«, sagte Andreas.
»Er ist noch immer der Messias, wir verstehen zwar seine Worte nicht, aber wir müssen sie anhören«, entgegnete Johannes. »Hat er uns in all den Monaten, die wir seine Jünger sind, auch nur einmal in die Irre geführt? Nein, kein einziges Mal! Deshalb bleibe ich.«
Ein buckliger Greis bahnte sich einen Weg nach vom bis zum Fuße der Kanzel, und während er Jesus seine Arme bedrohlich fuchtelnd entgegenstreckte, sagte er: »Du behauptest, du könntest uns das Brot des ewigen Lebens geben, aber in Wahrheit bietest du uns die Nahrung der unheilvollsten aller Sünden an! Menschenfleisch, hat man so etwas schon gehört! Haben wir uns so schwer gegen den Herrn versündigt, daß wir dazu verdammt sind, dich zu opfern und zu verzehren?« Dann wandte er sich an die Leute: »Wahrlich, ich, Zacharias, Sohn des Efraim, sage euch, die einzige Sünde, die wir begangen haben, war, diesem Hochstapler zuzuhören. Jagt ihn fort von hier!«
Einige Männer traten vor, um Jesus aus der Synagoge zu vertreiben. Er blieb reglos stehen.
»Komm herunter und geh!«
»Er wird schon von allein gehen. Entweiht diesen Ort nicht noch mehr durch euer Geschrei!«
»Wahrlich, ich sage euch«, fuhr Jesus unerschrocken fort, »wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes eßt und sein Blut nicht trinkt, könnt ihr kein Leben in euch haben! Jeder, der mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, wird das ewige Leben haben, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Mein Fleisch ist das wahre Brot, mein Blut ist der wahre Wein. Jeder, der mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, wird für immer in mir sein und ich in ihm. Ebenso wie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich durch Ihn am Leben bin, wird der, der mich ißt, durch mich leben. Dies«, verkündete er, wobei er sich gegen die Brust schlug, »ist das Brot, das vom Himmel kam, und es ist anders beschaffen als jenes, das unsere Väter gegessen haben. Sie sind gestorben. Aber ich wiederhole es und werde es so oft wiederholen, bis ihr mich versteht: Wer dieses Brot ißt, wird ewig leben.«
»Ich halte das nicht mehr aus«, schrie Judas Iskariot und ging.
Die anderen Jünger folgten ihm, nur Simon Petrus, Thomas und Johannes blieben.
Jesus stieg von der Kanzel herab und schritt an den Männern, die ihn bedroht hatten, vorbei. Er ging zum See hinunter. Am Ufer angekommen, atmete er tief durch. Wie die Worte aus ihm hervorgesprudelt waren! Ganz vage hatte er sie früher gedacht, dann hatten sie sich von selbst in ihm geordnet! Sie erschütterten ihn zutiefst. Da hatte er sich nun dem Vater als Opfergabe angeboten, um Israel von seinen Sünden zu erlösen! Große Verwirrung befiel ihn, wenn er an seine Verwandlung in ein Opferlamm dachte, seine Gedanken kreisten, haltlos, richtungslos... Nun hatte er den Weg gefunden, der immer schon versteckt auf ihn gewartet hatte bis zu diesem Tag. Wenn er Israel nicht mit Gewalt befreite, mußte er sich für sein Volk opfern. Liebte er Israel so sehr? Nein, nicht Israel allein. Er hatte gesagt, daß er sein Fleisch für die Welt hingeben wolle! Für die Welt! Vor seinen Augen tauchten die in der Mittagssonne gleißenden Straßen Alexandrias auf und die von Antiochia im Abendlicht, er sah die grüne Morgendämmerung über dem Oxus und das Indigo der untergehenden Sonne in Memphis, er dachte an die Tausenden von Menschen, die so gerne glauben wollten, daß sie einen Vater hätten und daß dieser Vater sich an sie erinnerte, daß Er, der alleinige Herr, sie trotz ihrer Sünden liebte. Aber der Vater wollte sich versichern, daß Seine Geschöpfe wirklich nach Seiner Liebe verlangten... Also mußte Ihm ein sehr großes Opfer dargebracht werden, um die zahllosen Verstöße gegen Sein Gesetz zu sühnen. Kein Lamm war dazu schön genug, keine Taube
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