Ein Mensch namens Jesus
sein Abendessen zu würdigen, doch seine verspannten Gesichtsmuskeln verrieten, daß er dabei weniger an das Essen als an andere Dinge dachte. Er kaute eine Weile lustlos an einer halben Wachtel herum, dann gab er es auf. Sein Schwiegervater Hannas, der ihm gegenüber saß, beobachtete ihn besorgt. Gedalja, der zwischen seinem alten und seinem neuen Vorgesetzten ebenfalls bei Tisch saß, tat, als bemerke er die Beklommenheit des Jüngeren nicht.
»Alles ist bereit«, sagte schließlich Hannas. »Ich sehe keinen Grund, mein Sohn, weshalb du dich mit Sorgen quälen solltest. Alles wird gutgehen.«
»Ach nein?« fuhr Kaiphas fort. »Du hast doch auch von Jesus’ Einzug vor zwei Tagen in Jerusalem gehört! Wie ein König wurde er empfangen! Stell dir vor, wie viele Anhänger er hat! Stell dir vor, Pilatus ergreift im Falle eines Aufstandes für ihn statt für uns Partei! Und stell dir weiter vor, wir könnten ihn vielleicht nicht verhaften, weil Judas uns versetzt! Oder daß Pilatus sich der Verhaftung in den Weg stellen oder danach verfügen könnte, daß Jesus wieder freigelassen werden muß! Und daß...«
»Nur mit der Ruhe!« unterbrach ihn Hannas. »Ich könnte mir ebensogut vorstellen, daß Hühner zu sprechen anfangen.« Er griff nach einer Wachtel, riß ihr mit einem energischen Ruck seiner knochigen Finger die Schenkel vom Rumpf und löste geschickt mit den Fingernägeln das Brustfleisch aus, das er, von einem mächtigen Schluck Wein begleitet, genießerisch in seinen Magen wandern ließ. »Judas wird kommen«, sagte er. »Er wird uns Jesus’ Aufenthaltsort verraten. Dann schicken wir die Tempelpolizei, um den Mann verhaften zu lassen. Pilatus wird sich der Verhaftung nicht entgegenstellen, weil er an Jesus nicht wirklich interessiert ist. Noch vor dem Sabbat haben wir die Erlaubnis, den Mann geißeln und kreuzigen zu lassen. Und einen Aufstand wird es auch nicht geben, weil Jesus weniger Anhänger hat, als du denkst. Ehrlich, du machst dir viel zu viele Sorgen. Ich hätte dir mehr Entschlossenheit zugetraut.«
Kaiphas spülte diese Zurechtweisung mit einem Schluck Wein hinunter.
Ein Diener kam, um zu melden, daß ein seltsamer Mann dringendst den Hohenpriester zu sprechen wünsche.
»Um diese Zeit!« regte sich Kaiphas auf. »Schick ihn wieder fort!«
»Er sagt, er heiße Judas Iskariot, und er würde sich hier vor der Türschwelle schlafen legen, wenn du ihn nicht empfängst, Herr.«
»Laß ihn unverzüglich hereinkommen!«
Judas trat ein. Er wirkte mitgenommen, mehr noch, er war aschfahl im Gesicht.
»Was ist los?« fragte Kaiphas und stand vom Tisch auf. »Warum machst du ein Gesicht, als hätte man dich gerade aufgeknüpft?«
»Man hat mich verraten«, stieß Judas mit rauher Stimme hervor. »Verraten?« wiederholte Kaiphas und bemühte sich vergeblich, ein Lächeln zu verkneifen.
»Er hat mich einen Verräter genannt! Wir wollten gerade zu Abend essen, vor ungefähr einer halben Stunde, als er plötzlich erklärte, daß einer seiner Jünger ihn verraten würde, und dabei hat er auf mich gezeigt. Sie haben versucht, mich festzuhalten, aber ich konnte ihnen entkommen.«
»Siehst du!« wandte sich Kaiphas an seinen Schwiegervater. »Jetzt werden die Hühner zu sprechen anfangen.«
»Nur Geduld!« meinte Hannas. »Wann und wo hat sich das zugetragen?«
»Vor einer halben Stunde, in einem Lagerhaus beim Teich Schiloach. Ich zeige euch den Weg.«
»Ein Lagerhaus?« überlegte Gedalja. »Es würde mich nicht wundem, wenn Josef von Arimathäa da seine Finger im Spiel hat.«
»So ist es auch.« Judas nickte.
»Es spielt keine Rolle, wem das Lagerhaus gehört«, sagte Hannas. »Die Tempelpolizei muß sofort dort hingeschickt werden.«
Gedalja, der sich um den Befehl hätte kümmern sollen, wischte sich in aller Gemütsruhe den Mund ab, ehe er sich Hannas zuwandte. »Die einzige Aufgabe, mit der wir unsere Leute bestenfalls betrauen könnten, wäre, dort das Geschirr zu spülen.«
»Wie?« fuhr Kaiphas hoch.
»Die Gäste werden gewiß nicht auf uns gewartet haben.«
Ein Levit trat ein, um einen römischen Offizier anzumelden. Judas begann zu zittern. Die drei Priester tauschten vielsagende Blicke.
»Er soll hereinkommen«, sagte Kaiphas, sichtlich verunsichert. »Guten Abend, erhabener Kaiphas!« Der Offizier betrat den Raum und steuerte zielsicher auf den Hohenpriester zu.
»Dies ist das Haus eines Priesters, rühr hier nichts an!« warnte ihn Kaiphas.
»Allein meine Füße berühren den
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