Ein Mord von bessrer Qualität: Ein Fall für Lizzie Martin und Benjamin Ross (German Edition)
nämlich auf der Schwelle, gab sie schließlich nach.
»Besser, Sie kommen rein, Sir. Ich gehe nach oben und frage die Lady, ob sie nach unten kommen kann und sich mit Ihnen unterhalten möchte. Sie ist sehr erschüttert, wissen Sie? Wir alle sind sehr erschüttert.«
Mit diesen Worten und einem Schluchzen führte sie mich in den Salon mit dem Flügel, in dem ich mich schon einmal aufgehalten hatte. Während ich dort auf das Erscheinen von Isabella Marchwood wartete, untersuchte ich einmal mehr und zum Zeitvertreib die Fotografie von Allegra Benedict. Sie sah atemberaubend jung und schön und unschuldig aus – und vielleicht auch ein klein wenig unberechenbar. Was mochte vorgegangen sein hinter diesen Augen, die so offen in die Kamera blickten, mit diesen zu einem leichten Lächeln verzogenen Lippen, das möglicherweise dem Fotografen gegolten hatte? Jeder hatte sie geliebt, wie es schien. Doch was hatte sie, noch ein halbes Kind, eigentlich vom Leben erwartet? Eine leidenschaftliche Romanze? Sebastian Benedict war jedenfalls keiner jener strahlenden Helden aus den einschlägigen Geschichten gewesen. Die Reise nach England jedoch musste einem jungen Menschen wie ihr als ein höchst aufregendes Abenteuer erschienen sein. Was hatte sie von ihrem neuen Leben dort erwartet? Mit ziemlicher Sicherheit eine Menge mehr als das, was sie schließlich vorgefunden hatte …
Ich seufzte mitfühlend mit dem jungen Mädchen in dem silbernen Rahmen, dann wandte ich mich der rubinroten Vase zu. Italienische Glaskunst möglicherweise. Die rote Rose, die bei meinem letzten Besuch in ihr gesteckt hatte, war einer rosafarbenen gewichen. Es war keine Jahreszeit für Rosen. Die Blumen waren unter Glas gewachsen und sicherlich nicht billig gewesen.
Ein leises Klicken hinter mir veranlasste mich, den Kopf zu drehen, und ich sah, dass Isabella Marchwood in den Raum gekommen war. Sie stand neben der Tür und beobachtete mich nervös. Wie am vorhergehenden Tag war sie auch heute ganz in Schwarz gekleidet und hatte einen Spitzenschleier übergeworfen. Sie war schon bei unserer ersten Begegnung eine sehr nichtssagende Person gewesen. Heute hingegen sah sie ausgesprochen krank aus, weiß im Gesicht, ausgezehrt, verhärmt und mit einem nervösen Zucken um die Mundwinkel. Ich fragte mich, wie dicht sie vor dem völligen Zusammenbruch stehen mochte.
»Ihr Arbeitgeber wird uns nicht stören«, sagte ich beruhigend. »Er hat das Haus verlassen. Ich habe ihn selbst gesehen – ich bin ihm auf dem Weg hierher begegnet. Er war unterwegs in Richtung Egham. Bitte setzen Sie sich doch.«
Sie trat zögernd näher und setzte sich nicht weit von der Tür entfernt – damit sie, wie ich mutmaßte, bei der unverhofften Rückkehr ihres Herrn nach draußen und auf ihr Zimmer stürzen konnte … oder falls ich ihr zu viel Angst einjagte.
»Ich fürchte, ich muss Sie noch einmal belästigen«, begann ich.
»Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie eifrig und beugte sich aufgeregt mit gegen den flachen Busen gepressten, übereinandergelegten Händen vor.
»Noch nicht«, musste ich einräumen, während ich mich fragte, ob ich mir erneut die Beschuldigungen anhören musste, die mir schon Benedict an den Kopf geworfen hatte.
Doch sie seufzte nur und schüttelte den Kopf. Mit abgewandtem Blick und kaum hörbar leiser Stimme fragte sie: »Halten Sie es für wahrscheinlich, dass Sie ihn finden, oder eher nicht?«
»Es ist mein Beruf, ihn zu finden, Miss Marchwood. Ich werde mein Bestes geben. Vielleicht könnten wir noch einmal über die Ereignisse des vergangenen Samstags reden, auch wenn es Ihnen schwerfällt und frische Wunden aufreißt?«
Sie protestierte nicht, doch sie begann ihre Geschichte zu rezitieren. Ihre Stimme klang monoton und dunkel. Ich verwende absichtlich das Wort »rezitieren«, denn sie benutzte beinahe die gleichen Worte wie schon zuvor, was meinen Verdacht nur noch erhärtete, dass sie sich ihre Aussage längst zurechtgelegt hatte, speziell für meinen ersten Besuch. Wenn eine Person Angst hat, auch nur einen Satz von einer Erzählung abzuweichen, dann bedeutet es in der Regel, dass sie Angst hat, etwas durchsickern zu lassen, das sie lieber verstecken möchte, oder dass sie Angst hat, sich zu widersprechen oder sich sonst auf irgendeine Weise als inkonsistent zu erweisen. Ich habe diese Erfahrung bereits bei vielen Zeugen gemacht. Nicht das, was sie einem erzählen, ist die wichtige Information. Sondern das, was sie einem nicht
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