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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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schon mit dem Ende der ersten Vorlesung aufgehört hatte, eine Rolle zu sein. Jonathan Gaynor war gut. Bei seinen Vorlesungen schlief niemand ein.
    Als er wieder mal die Kreide fallen ließ, sah Mallory, daß ihr Nachbar den dritten Strich an den Rand seines Collegeblocks machte. Bis zum Ende der Vorlesung sollten noch zwei dazukommen.
    Gaynors Vorlesungen boten kaum Überraschendes, aber sie waren nie langweilig. Mallory hörte ebenso aufmerksam zu wie seine Studenten, wobei sie große Mühe hatte, sich nicht über seine ironischen Bemerkungen zu amüsieren und – was noch schwerer war – ihn nicht sympathisch zu finden.
    Nach seiner zweiten Veranstaltung ging Gaynor, gefolgt von seinem blonden Schatten, wieder zu seinem Büro zurück. Dabei gab es keine besonderen Vorkommnisse, nur einmal fiel ihm ein Buch aus der Hand, über das er prompt stolperte.
    Während er im Büro seine Sprechstunde abhielt, setzte Mallory sich auf eine Bank im Gang. Die Studenten gaben sich die Klinke in die Hand. In den nächsten beiden Stunden war er nie allein.
    Sie notierte, wann der letzte Student Gaynors Zimmer betrat, dann holte sie den Brief aus der Leinentasche, den sie eigentlich schon gestern hätte aufmachen sollen, und wog ihn in der Hand. Er war von Robin Duffy, dem Anwalt und langjährigen Freund der gewesenen Familie Markowitz, der zum dritten Mal ihre Entscheidung wegen des Hauses in Brooklyn anmahnte. Ungeöffnet steckte sie den Schrieb in die Hosentasche.
    Sie brachte es einfach noch nicht fertig, die vertrauten Räume zu betreten und zu akzeptieren, daß niemand mehr zu Hause war.
    In irgendeiner Dimension lebte Markowitz weiter, aber nicht in diesem unbestimmten Raum, den die Leute Jenseits nannten. Mallory konnte – eine Stunde oder auch mehr – an den Helden einer Hörspielserie glauben, der die Gabe hatte, sich unsichtbar zu machen, aber nicht an einen Himmel, in den man kam, wenn man gestorben war. Nur – irgendwo mußte Markowitz sein.
    Sie hatte nie mehr einen Fuß in das kleine Lokal in der Nähe des Reviers gesetzt. Vormittags mied sie diese Gegend, denn vielleicht saß er ja dort und frühstückte, genau wie früher. Wie konnte sie das Haus in Brooklyn betreten, ohne ihm zu begegnen, wenn sie daran glauben wollte, daß das schwarze Loch im Friedhofsrasen nicht das Ende aller Dinge für ihn war?
    In Gedanken aber bemühte sie sich noch immer genau wie früher, ihn zu verblüffen, ihm zu einer neuen Geschichte für seine Pokerrunde zu verhelfen, die immer so anfing: »Ihr werdet staunen, was meine Kleine diesmal wieder angestellt hat.«
     
    Die weißhaarige Samantha Siddon nickte dem Pförtner freundlich zu und ging, den Stock mit dem silbernen Griff schwenkend, langsam bis zur nächsten Ecke. Das leichte Hinken war eine ständige schmerzliche Erinnerung an den bösen Sturz, bei dem sie sich die Hüfte gebrochen hatte. Endlos hatte es gedauert, bis der Knochen geheilt war, und eine beginnende Arthritis hatte die Schmerzen schier unerträglich werden lassen. Lieber von vier schnellen Pferden in Stücke gerissen werden als noch einmal so etwas erdulden! Ohne ihren Stock, den ein Löwenkopf als Griff zierte und der ihr ein wenig Mut gab, tat sie keinen Schritt mehr aus dem Haus.
    Bald lagen die friedlichen Gefilde des Gramercy Square hinter ihr, und sie war in Manhattan, einem fremden Land, in dem sie nur flache Atemzüge tat, weil sie seiner Luft mißtraute. Der Fahrer des Taxis, das sie heranwinkte, war, wie sie ebenso erfreut wie überrascht feststellte, ein waschechter New Yorker mit handfestem Brooklyn-Akzent, einer von denen, die kein Risiko scheuen, mit Todesverachtung die Spur wechseln und regelmäßig bei Gelb über die Kreuzung rasen. So kam es, daß sie viel zu früh an der Madison Avenue war. Sie hatte bei ihrer Zeitplanung mit einem Fahrer fremder Zunge gerechnet, einem von denen, die die angegebene Adresse immer am falschen Ende der Stadt suchen.
    Nun hatte sie noch eine Viertelstunde Zeit. An einer belebten Ecke blieb sie neben einer Telefonzelle stehen und beobachtete die Heerscharen der auf flachen Schuhen oder hohen Absätzen fest und sicher dahinschreitenden Kommerzkolonnen, die auf ihrem Weg in die Mittagspause nicht nach rechts und nicht nach links sahen und bedenkenlos jedes Hindernis – auch alte Frauen oder kleine Kinder – überrollt hätten. Sie wußte sehr wohl, daß sie mit einem Tageszins ihres Kapitals jeden aus dieser Heerschar hätte kaufen oder verkaufen können. Trotzdem

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