Ein paar Tage Licht
Ausschreitungen verbunden, die Sicherheitskräfte nicht zimperlich, es habe Tote und Verletzte gegeben. Die Gründe: Mangel an Wohnungen, Arbeit, Perspektiven, die hohen Lebensmittelpreise, die Korruption. Über einhundert Selbstverbrennungen, dieselben Gründe. Hohe Jugendarbeitslosigkeit? Ja, zwei Drittel der Einwohner seien unter fünfunddreißig Jahren, davon um die dreißig Prozent ohne Job. Investitionen brächten Arbeitsplätze? Nun ja. Einer Handvoll Facharbeitern, nicht der Masse. Auf vielen Großbaustellen seien vor allem chinesische Wanderarbeiter beschäftigt.
Politisch stabil? Allein die Angst vor einem neuen Terrorjahrzehnt und vor der eisernen Hand der Sicherheitskräfte halte die Bevölkerung davon ab, Ernst zu machen, sich dem Arabischen Frühling anzuschließen. Doch wer wisse schon, wozu die Traumatisierung der Menschen führen werde? Wie lange sie sich noch von einer korrupten Elite aus Geheimdienstlern, Militärs, Ölmanagern, FLN -Erben regieren lassen wollten? Was die Auseinandersetzungen in Ägypten, die Balkanisierung Libyens, die Krise Tunesiens bewirken würden?
Sie hielt kurz inne. » AQM wollten Sie noch erwähnen?«
»Natürlich«, erwiderte der Schöne. »Später allerdings, noch nicht hier, beim … Überblick.«
»Algerien ist Al-Qaida-Land.«
»So allerdings würde ich das nicht sagen wollen.«
»Sollten Sie aber.«
Hunderte Anschläge jedes Jahr, viele Tote unter den Sicherheitskräften, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Man vermute, dass Anschläge auf Erdöl- oder Erdgasfelder geplant seien, wo zahlreiche Ausländer arbeiteten. Die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes seien gerade wieder einmal verschärft worden: Mehr als zwei Drittel des Landes sollten nicht oder nur in Polizeibegleitung bereist werden. Im Norden die Kabylei, im Nordosten die Grenzregion zu Tunesien, wo auf tunesischer Seite ein neues algerisches AQM -Katibat entstanden sei, der größte Teil der algerischen Sahara, inklusive jener Regionen, in denen ausländische Firmen Öl und Gas förderten.
»Was wollen Sie in einem Land«, fragte sie die Unsichtbaren, »in dem Sie Ihre Produktionsstätten nicht ungefährdet besuchen können? In dem Sie nur mit Polizeieskorte zum Abendessen gehen können, weil Sie einen Anschlag oder eine Entführung einkalkulieren müssen? In dem Sie Ihre Gebäude und Anlagen mit immensem Aufwand schützen müssen? Wissen Sie, welche Sicherheitsmaßnahmen für die Areale von Rheinmetall Algérie und Elbe Algérie in Ain Smara bei Constantine geplant sind? In einem angeblich halbwegs sicheren Gebiet? Da entstehen Hochsicherheitsfabriken, die nach militärischen Kriterien in unterschiedliche Zonen aufgeteilt sind, mit mehreren Betonwällen, die kein Selbstmordattentäter in die Luft jagen kann.«
»Eben!«, rief der Schöne erleichtert.
Roth-Albig hüstelte fern, Prinz lachte freundlich. »Was wollen Sie in einem Land, in dem Sie in vielen Bereichen nur mithilfe von Bestechung investieren können? In dem ausländische Firmen maximal neunundvierzig Prozent eines Joint Ventures halten dürfen? Das im besten Fall scheindemokratisch ist und die Menschenrechte in vielerlei Hinsicht verletzt? In dem die Friedrich-Ebert-Stiftung ihr Büro schließen muss, weil sie aufgrund des neuen NGO -Gesetzes ihre langjährige Arbeit nicht mehr fortsetzen kann?«
Sie räusperte sich, trank einen Schluck Wasser. Wartete.
Niemand sagte etwas, auch der Schöne schwieg. Kein Widerspruch, kein Protest, keine Beschimpfungen, nur das leise Summen des Beamers und der Atem ihrer Nachbarn. Als hätte man sich abgesprochen. Lassen wir sie reden. Ins Leere laufen.
»Ich habe Ihnen ein Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik mitgebracht«, sagte sie, »die Bundesregierung und Bundestag maßgeblich berät, wie Sie wissen. Sehen Sie sich die Kennziffern zu Algerien an. Politische Rechte: 6 von 7, 7 ist der schlechteste Wert. Bürgerliche Freiheiten: 5 von 7. Freiheitsstatus: nicht frei.« Sie klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Sie kooperieren mit einem Staat, dessen Bürger von einem der renommiertesten deutschen Forschungsinstitute als nicht frei eingestuft werden.«
Sie hielt inne. Wartete. Spürte die Blicke aus der Dunkelheit, die Abneigung mit Händen greifbar. Widersprecht mir, dachte sie. Kämpft!
Keiner kämpfte. Keiner rührte sich. Reglose Umrisse menschlicher Wesen, wo der Lichtschein des Beamers hinreichte, alle anderen unsichtbar, auch der Schöne, der sich wieder gesetzt
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