Ein Pirat zum Verlieben
hinter unserem Heck und kam direkt auf uns zu. Und dann« – er schwenkte dramatisch die Arme – »taucht es an Backbord auf und verschwindet!«
»Sie hat nach der Wand gefragt, Mr. Potts«, erinnerte ihn jemand.
»Weiß ich! Dazu komme ich gleich«, brummte er und schenkte Lady Renfrew ein liebenswürdiges Lächeln, freudig erregt, im Mittelpunkt zu stehen. »Der Käpt’n hat sich von unserem Tuff hier Bericht erstatten lassen.« Er zeigte mit dem Daumen auf den Jungen. »Und als wir wieder hinguckten, war das Schiff hinter diesem Vorhang aus Nebel verschwunden.«
»Wir haben alle schon Nebel auf See gesehen, Potts«, warf Sikes schwach ein. »Und das war was ganz anderes!«
Ein paar Männer, die näher getreten waren, nickten zustimmend. »Genau! Nebel bewegt sich nicht wie eine Schlange!«
Trotz der Hitze spürte Tess eine Gänsehaut auf ihren Armen und im Nacken, als sie unsicher auf die Beine kam. Wie in Trance sah sie den klaren Himmel vor sich, als sie über Bord gesprungen war. Und wie entsetzt sie gewesen war, als sie sich auf die Decke aus wirbelnden Nebelfetzen zu bewegt hatte. Sie erinnerte sich vage, Donnergrollen gehört und einen Blitz über den Himmel zucken gesehen zu haben. Hatte der Sturm, den diese Männer erlebt hatten, auf der anderen Seite jener dunklen Trennwand stattgefunden? Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Bin ich irgendwie durch diese Wand gelangt? Und wohin? Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Hände bebten, während sich in ihrem Kopf die wildesten Vermutungen überschlugen.
Tess taumelte an die Reling und hielt sich so krampfhaft fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Alles stürzte wie eine Flutwelle von Tatsachen auf sie ein. Ja, denn jetzt waren es Tatsachen. Die Kleidung, das Mobiliar. Die archaischen Ansichten, die primitiven Waffen und, lieber Gott, der Tod. In der von Laternen erhellten Dunkelheit schnatterte Richmond fröhlich im Wasser, und Tess rief verzweifelt:
»Warum hast du mich hierher gebracht, Richmond? Warum?«, fragte sie, ohne zu merken, dass sie laut gesprochen hatte. »In welche Epoche hast du mich geführt?« Sie presste eine Hand an ihren Mund und biss sich in den Ballen, um den markerschütternden Schrei zu unterdrücken, der sich in ihrer Kehle formte. Sag es, ermahnte sie ihr Verstand. Stell dich der Wahrheit. Mit fest geschlossenen Augen ließ Tess zu, dass der Gedanke Gestalt und Form annahm. Es gab keine andere Erklärung als die, vor der sie sich gescheut hatte. Die schwarze Wand war ein Tor gewesen.
In die Vergangenheit.
»Lady Renfrew?«
Als sie herumwirbelte, begegnete sie dem Blick jener bezwingenden grünen Augen.
»Sie!«, stieß sie hervor und wich zurück. »Sie sind ein Pirat! Ein gottverdammter Pirat!«
Er versteifte sich und seine hellen Augen verblassten zu weißem Frost. »Pardon?«
»Schauen Sie nicht so beleidigt, Blackwell. Sie wissen, was Sie sind!«, schleuderte sie ihm an den Kopf, während sie ihn aus stahlgrauen Augen angewidert von oben bis unten musterte.
Sie ist erschöpft, dachte Dane mitfühlend, am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er konnte die nervöse Energie, die sie ausstrahlte, förmlich sehen. Sie wirkte beinahe explosiv, als warte sie auf irgendetwas, das den Funken auslöste.
Damit werde ich nicht fertig, dachte sie, während ihr Blick wie gehetzt über das Schiff flog. Ich kann es nicht! Tess rannte zum Niedergang, vorbei an Duncan, der mit Verbandzeug und Salben beladen war. Sie sah ihn nicht einmal, als sie über die erhöhte Stufe stolperte. Sie rannte in die Kajüte, riss sich die Kleidungsstücke vom Leib und lief ins Bad. Das Sitzbad war mit warmem Wasser gefüllt, und irgendwo in dem Aufruhr, der in ihrem Inneren tobte, registrierte sie, dass sie diese aufmerksame Geste Duncan verdankte. Sie beugte sich vor und tauchte den Kopf ins Wasser, so lange, bis sie die Luft nicht mehr anhalten konnte. Sie richtete sich auf, warf mit einem Ruck ihren Kopf zurück und ließ das warme Wasser an die Wände spritzen und über ihren Körper laufen. Der Geruch des Todes hing an ihr. Zitternd stieg sie in die Wanne und seifte in Rekordzeit ihr Haar ein. Sie schrubbte sich von oben bis unten gründlich ab, dann noch einmal. Ihre Haut brannte, als sie aus dem Bad stieg und sich in ein Handtuch wickelte.
Es änderte nichts.
»Ich will zurück«, flüsterte sie, während sie mit hängenden Schultern in der Kajüte auf und ab lief. Zweihundert Jahre in die Vergangenheit. Die Möglichkeit ließ
Weitere Kostenlose Bücher