Ein plötzlicher Todesfall
kleines, solidarisches Lächeln, das Schmetterlinge in ihr freisetzte. Unwillkürlich musste sie wieder daran denken, während Parminder mit dem Geschirr klapperte, dass Vikram und Parminder eine arrangierte Ehe eingegangen waren.
(»Das ist nur eine Anbahnung durch die Familie«, hatte Parminder ihr zu Beginn ihrer Freundschaft erzählt, trotzig und verärgert über etwas, das sie in Tessas Gesicht gesehen hatte. »Niemand zwingt dich, den anderen zu nehmen, verstehst du.«
Dann wiederum hatte sie auch von dem enormen Druck durch ihre Mutter gesprochen, endlich zu heiraten.
»Bei den Sikh wollen alle Eltern, dass ihre Kinder heiraten. Es ist eine fixe Idee«, hatte Parminder verbittert gesagt.)
Colin sah gelassen zu, wie ihm der Teller weggeschnappt wurde. Die Ãbelkeit, die in ihm rumorte, war noch stärker geworden, seit er mit Tessa bei den Jawandas eingetroffen war. Er kam sich vor, als wäre er in einer dicken Glaskugel eingeschlossen, so weit weg fühlte er sich von seinen drei Tischgenossen. Ihm war nur allzu vertraut, in einer riesigen Blase aus Problemen zu wandeln, von ihr umschlossen zu sein und zu beobachten, wie seine eigenen Ãngste die AuÃenwelt verdunkelten.
Tessa war ihm keine Hilfe. Sie war absichtlich kühl und ablehnend wegen seiner Bewerbung um Barrys Sitz. Sinn und Zweck dieses Essens war, dass Colin sich von Parminder einen Rat für seine kleinen Flugblätter einholen konnte, die er für seine Wahlwerbung zusammengestellt hatte. Tessa würgte alle Gespräche über die Angst ab, die ihn allmählich verschlang. Sie verweigerte ihm einen Ausweg.
Er versuchte ihre Unterkühltheit nachzuahmen und so zu tun, als würde er nicht unter dem selbst auferlegten Druck einknicken, und hatte ihr nichts über den Anruf von der Yarvil and District Gazette erzählt, den er tagsüber in der Schule erhalten hatte. Die Journalistin am anderen Ende der Leitung hatte über Krystal Weedon reden wollen.
Ob er sie angefasst habe?
Colin hatte der Frau gesagt, die Schule könne unmöglich über eine Schülerin sprechen, man müsse sich über ihre Eltern an Krystal wenden.
»Ich habe schon mit Krystal gesprochen«, sagte die Stimme. »Ich wollte nur Ihre â¦Â«
Aber er hatte aufgelegt, Entsetzen hatte alles andere ausgeblendet. Warum wollten die über Krystal reden? Warum hatten sie ihn angerufen? Hatte er etwas getan? Hatte er sie berührt? Hatte sie sich beschwert?
Der Psychotherapeut hatte ihm beigebracht, er solle nicht versuchen, den Inhalt solcher Gedanken zu bestätigen oder zu widerlegen. Er solle ihre Existenz zur Kenntnis nehmen, dann normal weitermachen. Aber das war, als dürfe er sich bei unerträglichem Juckreiz nicht kratzen. Die öffentliche Enthüllung von Simon Prices schmutzigen Geheimnissen auf der Website des Gemeinderats hatte Colin schockiert. Die Angst vor BloÃstellung, die einen GroÃteil seines Lebens beherrscht hatte, bekam jetzt das Gesicht eines alternden Cherubs mit dämonischen Absichten, die unter einer Sherlock-Holmes-Mütze auf festen grauen Locken und hinter hervorquellenden, forschenden Augen brodelten. Immer wieder fielen ihm Barrys Geschichten über das bewundernswert strategische Geschick des Feinkosthändlers ein, über das verschlungene Netz von Bündnissen, das die sechzehn Mitglieder des Gemeinderats von Pagford zusammenhielt.
Colin hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, wenn das Spiel aus war. Ein zurückhaltender Artikel in der Zeitung, Gesichter, die sich von ihm abwandten, wenn er bei Mollison & Lowe hereinkam, die Schulleiterin, die ihn auf ein Wort in ihr Büro bitten würde. Er hatte sich seinen Absturz tausend Mal vor Augen geführt: seine Schande bloÃgestellt und wie die Glocke eines Aussätzigen um seinen Hals gehängt. Kein Verheimlichen wäre dann noch möglich, nie mehr. Man würde ihn feuern. Vielleicht würde er im Gefängnis landen.
»Colin«, mahnte Tessa ihn leise. Vikram wollte ihm Wein einschenken.
Tessa wusste, was hinter dieser hohen, gewölbten Stirn vorging, zwar nicht im Einzelnen, doch seine Angst war seit Jahren ein Thema. Sie wusste, dass Colin dagegen machtlos war. Vor vielen Jahren hatte sie die Worte von W. B. Yeats gelesen und für wahr befunden: »Ein Erbarmen ohne Namen ist im Herzen der Liebe bewahrt.« Sie hatte über den Sinnspruch lächeln müssen und die Seite
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