Ein süßer Sommer
Nacht beisammen waren, noch innig zugetan. Ich war müde, die Kehle wie zugeschnürt von der Sehnsucht, mit der sie mir ein glückliches Familienleben offenbart hatte, das es meiner Meinung nach nie gegeben hatte. Ich glaubte, durch das knielange Blümchenkleid und den stramm gewickelten Säugling entschieden mehr erfahren zu haben als von ihr. Prüderie und Engstirnigkeit, eine Ehe, die vielleicht nur auf Vernunft basierte, wahrscheinlich sogar eine Mussehe.
Zeitlich lag dieser Verdacht nahe, es waren ja nur neun oder zehn Monate zwischen Helga im August und Helga mit Baby im Mai vergangen. Nach der Enttäuschung in Köln ein verzweifeltes Abenteuer mit Folgen in den Staaten und dann für ein Leben gebunden. Keine Romantik mehr, keine großen Gefühle für Helga. Nur die kleine Tochter, die es ganz anders und viel besser machen oder haben sollte. Wollen Mütter das nicht immer? Irgendwann hörte ich Candy ins Bad gehen, Wasser rauschen, das Prusten und Gurgeln, dann die tapsigen Schritte von nackten Füßen auf Keramik. Der Boden in der Diele und im Wohnzimmer war zu kalt, um barfuß darüber zu laufen. Das wollte ich ihr gleich morgen früh sagen. Mit dem Vorsatz schlief ich ein. Ich schlief früher – abgesehen von der ersten Nacht mit Candy in meiner Wohnung und den zwei Pistolen unter der Bettdecke – immer rasch ein. Es dauerte nie länger als ein paar Minuten. Und zum Aufwachen brauchte ich prinzipiell den kleinen Reisewecker, den ich stets in meiner Nähe hatte. Dass mich daheim einmal mitten in der Nacht ein anderes Geräusch als sein feines Zirpen geweckt hätte, wüsste ich nicht. In der zweiten Nacht mit Candy geschah das zum ersten Mal. Es war kurz nach drei, und es war ein verhaltenes Schluchzen. Ich weiß nicht, ob man sensibler für solche Dinge wird, wenn man sich für einen Menschen verantwortlich fühlt. Jungen Müttern soll es ja so ähnlich gehen. Sie werden beim geringsten Laut ihres Säuglings sofort hellwach. Zuerst horchte ich nur und fühlte mich sehr unwohl dabei. Nach zehn Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte ja nichts von ihr, sie nur trösten, wenn das möglich war, und natürlich erfahren, warum sie weinte. Auch die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spalt weit auf. 2 Ich drückte sie ganz auf, trat ein und räusperte mich, was sie vermutlich nicht hörte. Also stieg ich die beiden Stufen zur kleinen Couch hinauf. Es war nicht völlig dunkel in dem Winkel. Ich sah Candy unter der Decke liegen, das Gesicht halb im Kissen vergraben, sodass sie mich nicht bemerkte. Erst als ich mich zu ihr setzte, fuhr sie mit erstaunlicher Schnelligkeit hoch, griff mit beiden Händen nach der Decke und zerrte sie sich bis zu den Schultern hinauf. Dann kam auch schon der Protest.
«Das ist gegen die Abmachung, Mike. Jeder bleibt in seinem Bett, du hast es versprochen. Geh wieder.»
Sie deutete mit dem Kinn in Richtung der offenen Tür. Ich erhob mich, blieb aber neben der Couch stehen.
«Darf ich wenigstens erfahren, warum du weinst? Du hast mich damit geweckt, sonst wäre ich nicht gekommen.»
«Sorry», murmelte sie.
«Ich dachte nicht, dass es so laut ist.»
«Das ist keine Antwort, Candy.» Sie schniefte ein wenig, leckte sich über die Lippen. Dann schaute sie mir ins Gesicht, ganz offen und frei, ohne Blinzeln.
«Es ist nur wegen …» Sie brach ab, begann neu.
«Ich hatte mir das so toll vorgestellt. Du weißt schon. Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass die Leute nach all der Zeit noch da wohnen, ehrlich nicht. Aber warum musste mich dieser blöde Vermieter belügen? Er hätte mir doch wenigstens sagen können, wie der Mann …» Wieder brach sie mitten im Satz ab, schniefte, wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase vorbei und fluchte:
«Ach, Mist. Ich hätte dir nicht so viel erzählen dürfen. Das Ganze war wahrscheinlich eine blöde Idee. Und dafür verplempere ich Zeit, ich wäre besser bei Mami geblieben.» Eine winzige Pause, der Blick blieb unverändert auf mein Gesicht gerichtet, als sie erklärte:
«Ich war noch nie länger von ihr getrennt, weißt du. Nur damals, als sie so lange in der Klinik lag. Danach noch zweimal in den Ferien und die drei Wochen vor zwei Jahren bei Tante Gertrud, das zählt nicht. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, endlich mal ganz allein etwas zu unternehmen. Und Mami meinte auch, es würde Zeit, dass ich mich auf eigene Faust in der Welt umsehe. Und nun fehlt sie mir so. Ich weiß, ich benehme mich kindisch. Aber ich hatte
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