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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Geschichte ist? Die Mächtigen nehmen den
povos
das Brot aus dem Mund – die
povos
kommen irgendwie zurecht.«
    »Und die Armen sind natürlich immer mit uns?«, sagte Sylvia sarkastisch.
    »Haben Sie jemals etwas anderes beobachtet?«
    »Und man kann nichts dagegen tun, alles wird ewig so weitergehen?«
    »Wahrscheinlich«, sagte Pater McGuire. »Was mich interessiert, ist, wie Sie das sehen. Sie sind immer überrascht, wenn etwas ungerecht ist. Dabei ist es immer so.«
    »Aber man hat ihnen so viel versprochen. Bei der Befreiung hat man ihnen – alles versprochen.«
    »Politiker machen eben Versprechungen, um sie dann zu brechen.«
    »Ich habe alles geglaubt«, sagte Rebecca. »Ich war wirklich dumm und habe bei der Befreiung geschrien und gejubelt. Ich dachte, sie meinen es ernst.«
    »Natürlich haben sie es ernst gemeint«, sagte der Priester.
    »Ich glaube, unsere politischen Führer sind alle so schlimm geworden, weil wir verflucht sind.«
    »Oh, Himmel hilf.« Endlich begann der Priester zu schimpfen. »Ich bleibe nicht hier sitzen und höre mir so einen Unsinn an.« Aber er stand nicht vom Tisch auf.
    »Ja«, sagte Rebecca. »Es war der Krieg. Es liegt daran, dass wir die Toten aus dem Krieg nicht begraben haben. Wussten Sie, dass da drüben in den Höhlen auf den Hügeln Skelette liegen? Wussten Sie das? Aaron hat es mir erzählt. Und Sie wissen, dass die Toten wiederkommen und uns verfluchen, wenn wir sie nicht nach unserer Sitte begraben?«
    »Rebecca, Sie sind eine der intelligentesten Frauen, die ich kenne, und …«
    »Und jetzt gibt es Aids. Und das ist ein Fluch. Was denn sonst?«
    Sylvia sagte: »Das ist ein Virus, Rebecca, und kein Fluch.«
    »Ich hatte sechs Kinder, und jetzt habe ich drei, und bald sind es zwei. Und jeden Tag gibt es auf dem Friedhof ein neues Grab.«
    »Haben Sie mal vom Schwarzen Tod gehört?«
    »Wie denn? Ich bin über die Grundschule nicht hinausgekommen.«
    Das bedeutete, dass sie davon gehört hatte und mehr wusste, als sie verriet, sie wollte, dass sie ihr mehr davon erzählten.
    »Es hat eine Seuche gegeben, in Asien und Europa und Nordafrika. Ein Drittel der Menschen ist damals gestorben«, erklärte Sylvia.
    »Ratten und Flöhe«, sagte der Priester. »Sie haben die Krankheit gebracht.«
    »Und wer hat den Ratten gesagt, wo sie hingehen sollen?«
    »Rebecca, das war eine Seuche. Wie Aids. Wie Slim.«
    »Gott ist wütend auf uns.«
    »Der Himmel helfe uns allen«, sagte der Priester. »Allmählich bin ich zu alt, ich gehe zurück nach Irland. Ich fahre nach Hause.«
    Er war unleidlich, ganz wie ein alter Mann. Und er sah auch nicht gut aus – in seinem Fall war es zumindest nicht Aids. Vor Kurzem hatte er wieder Malaria gehabt. Er war ausgelaugt.
    Sylvia fing an zu weinen.
    »Ich lege mich ein paar Minuten hin«, sagte Pater McGuire. »Und ich weiß, es nutzt nichts, wenn ich Ihnen sage, dass Sie das auch tun sollten.«
    Rebecca ging zu Sylvia und half ihr beim Aufstehen; gemeinsam gingen die beiden zu Sylvias Zimmer. Rebecca stützte Sylvia, während sie sich auf das Bett gleiten ließ und anschließend die Augen mit einer Hand bedeckte. Rebecca kniete sich neben das Bett und schob ihren Arm unter Sylvias Kopf.
    »Arme Sylvia«, sagte sie und sang leise ein Wiegenlied. Der Ärmel von Rebeccas Kittel war viel zu weit: Dicht vor ihren Augen konnte Sylvia durch ihre Finger den dünnen schwarzen Arm sehen, und am Arm eine Wunde, eine von denen, die sie nur zu gut kannte. Solche hatte sie am selben Morgen bei einer Frau im Krankenhaus verbunden. Das weinende Kind, das Sylvia bis zu diesem Augenblick gewesen war, verwandelte sich, und die Ärztin kehrte zurück. Rebecca hatte Aids. Jetzt, wo Sylvia es wusste, war es offensichtlich, und sie hatte es schon lange gewusst, ohne es zuzugeben. Rebecca hatte Aids, und Sylvia konnte nichts dagegen tun. Sie schloss die Augen und tat so, als würde sie einschlafen. Sie spürte, wie Rebecca sich sanft zurückzog und aus dem Zimmer ging.
    Sylvia lag da und hörte zu, wie das eiserne Dach in der Hitze knackte. Sie betrachtete das Kruzifix, an dem der Erlöser hing, betrachtete die verschiedenen Jungfrauen in ihren blauen Gewändern. Sie nahm einen gläsernen Rosenkranz vom Haken neben ihrem Bett und ließ ihn in ihren Fingern ruhen: Das Glas der Perlen war warm wie Fleisch. Sie hängte ihn wieder hin.
    Gegenüber nahmen Leonardos Frauen die halbe Wand ein. Silberfischchen hatten die schönen Gesichter angefressen, die Ränder der

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