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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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jeder einzelnen Ausgabe einen Standpunkt vertreten müssen, und es lag zwar in ihrer Natur, gegensätzliche Perspektiven zu erkennen, aber auch ungern mehr zu sagen als: »Ja, das ist alles sehr schwierig.«
    Vor Kurzem hatte sie beschlossen, Stehlen definitiv falsch zu finden, und zwar nicht wegen ihrer unglückseligen Kinderstube, sondern weil sie jahrelang Johnny zugehört hatte, der beinahe wie ein Guerilla-Führer auf jedes mögliche unsoziale Verhalten drängte: auf Überraschungsattacken. Eines Tages war ihr eine simple Wahrheit aufgegangen. Er wollte einfach alles niedermachen, wie Samson. Nur darum ging es. »Die Revolution«, über die er und seine Kumpel ununterbrochen redeten, bestand darin, mit einem Flammenwerfer über alles hinwegzugehen und nur verbrannte Erde zurückzulassen. Und dann – ganz simpel – wollten er und seine Kumpel die Welt nach ihrem Bilde wieder aufbauen. Einmal erkannt, war es offensichtlich, aber dann musste man sich mit folgendem Gedanken befassen: Wie konnten Menschen, die nicht in der Lage waren, ihr eigenes Leben zu organisieren, die in permanenter Auflösung lebten, irgendetwas aufbauen, das sich lohnte? Dieser aufrührerische Gedanke – und er war seiner Zeit um Jahre voraus, jedenfalls in den Kreisen, in denen sie sich bewegte – ging einher mit einer Emotion, von der sie kaum gewusst hatte, dass es sie gab. Sie fand, dass Johnny … es war nicht nötig, es auszusprechen … Sie war sich absolut klar geworden über das, was sie dachte, aber gleichzeitig verließ sie sich auf diese Aura des hoffnungsvollen Optimismus, die ihn umgab, die die Genossen umgab und alles, was sie taten. Sie glaubte tatsächlich – und wusste es kaum –, dass die Welt immer besser werden würde, dass sie alle auf der Rolltreppe Fortschritt standen und dass sich die Übel der Gegenwart allmählich auflösen und dann alle auf der Welt eine glückliche und gesunde Zeit erleben würden. Und wenn sie in der Küche stand, schüsselweise Essen für die »Kinder« zubereitete, die vielen jungen Gesichter sah und ihre respektlosen, zuversichtlichen Stimmen hörte, dann spürte sie, dass sie ihnen als stilles Versprechen eine Garantie auf diese Zukunft gab. Wo kam dieses Versprechen her? Von Johnny, sie hatte es bei Genosse Johnny aufgesogen, und während sie gedanklich bereit war, ihn zu kritisieren, jeden Tag mehr, verließ sie sich emotional, doch ohne es zu wissen, auf Johnny und seine schöne, neue, süße Welt.
    In ein paar Stunden würde sie sich hinsetzen und ihren Artikel schreiben, und was würde sie sagen?
    Sie hatte zwar sehr starke Missbilligung gezeigt, aber sie hatte sich in ihrem eigenen Haus nicht ausdrücklich gegen das Stehlen ausgesprochen. Welches Recht hatte sie also, anderen zu sagen, was sie tun sollten?
    Und wie verwirrt die armen »Kinder« waren. Als sie gestern Abend aus der Küche gegangen war, hatte sie gehört, wie sie lachten, aber mit Unbehagen. Sie hatte gehört, dass James’ Stimme lauter als die der anderen war, weil er so gerne von all den freien Geistern akzeptiert werden wollte. Armer Junge, er war (wie sie) vor seinen langweiligen, provinziellen Eltern zu den Vergnügungen von Swinging London geflohen, in ein Haus, das Rose als Hort der Freiheit bezeichnete – sie liebte diesen Ausdruck. Und dort war er genauso verurteilt worden – er stahl bestimmt, das machten sie alle – wie bei seinen Eltern.
    Es war inzwischen neun Uhr, spät für sie. Sie musste aufstehen. Sie öffnete die Tür zum Treppenabsatz und sah, dass Andrew auf dem Fußboden saß, an einer Stelle, wo er die Tür zu dem Zimmer sehen konnte, in dem das Mädchen war. Sie stand offen. Er formte tonlos mit den Lippen: Schau, schau doch.
    Blasse Novembersonne fiel in das Zimmer gegenüber, und dort hockte eine zierliche, aufrechte Gestalt mit einer Aureole aus hellem Haar und in einem altmodischen rosafarbenen Gewand – einem Morgenmantel? – auf einem hohen Schemel. Wenn Philip diese Vision noch hätte sehen können, hätte er ohne Weiteres geglaubt, dass dies das Mädchen Julia war, seine Liebe vor langer Zeit. Auf dem Bett lag Tilly, fest in ihr Babytuch gewickelt, von Kissen gestützt, und starrte die alte Frau an, ohne zu blinzeln.
    »Nein«, kam Julias kühle, korrekte Stimme, »nein, du heißt nicht Tilly. Das ist ein sehr törichter Name. Wie heißt du wirklich?«
    »Sylvia«, lispelte das Mädchen.
    »Und warum nennst du dich Tilly?«
    »Als ich klein war, konnte ich nicht

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