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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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zu verlieren, schlägt der Hubschrauber auf dem Boden auf. Es knackt im Chassis, eine Stoßwelle durchläuft die Rotorblätter – als könnten sie jeden Augenblick abreißen.
    «Gelandet.» Der Pilot stößt die Tür auf, setzt die Leiter an. «Hast du gesehen? Fragst du noch, warum sie abstürzen? Es gibt kaum ein einwandfreies Fluggerät, jeder Hubschrauber wird bis zum Rand vollgeladen. Das Fluggewicht ist extrem hoch, der Motor arbeitet ständig unter Maximalbelastung. Zum Schweben reicht die Leistung nicht mehr aus, so eine schwere Maschine kann sich nicht in der Luft halten. Jedes Mal ist das bei uns so – wir landen nicht, wir fallen runter. Das Gerät ist eben völlig abgenutzt. Wir fliegen dreißig Einsätze am Tag …»
    ***
    In Grozny gehe ich zu den Aufklärern, die ich von früheren Recherchereisen kenne. Das Aufklärungsbataillon lebt isoliert von allen anderen in einem Zeltlager. Im Vergleich zu Chankala ist das hier ein Komfort wie in Chruschtschow-Plattenbauten. Für häusliche Anschaffungen hat niemand Zeit – Aufklärung, Sondereinheiten und FSB werden mit Arbeit überschüttet. Dennoch richtet man sich hier so langsam ein – ich sehe Kühlschränke, Fernsehgeräte, Tische und Stühle.
    Die Aufklärer trinken Wodka. Die ersten Minuten gelten der Wiedersehensfreude. Aber alle warten nur auf meine erste Frage. Und die stelle ich: «Na, wie ist es hier?» Schon werden die Blicke schwer, füllen die Augen sich mit Hass, Schmerz und ewig lastender Depression. Kurz darauf hassen sie schon alles, mich eingeschlossen. Mit jedem weiteren Wort steigern sie sich nur in ihren tollkühnen Wahn hinein, die Sprache beschleunigt sich zu einem hitzigen Redegalopp – schreib, Korrespondent, schreib auf.
    «Sag, warum schreibt ihr nichts über die Verluste? Allein in unserem Bataillon gibt es schon sieben Gefallene und sechzehn Verwundete.»
    «Der Krieg geht weiter, wir kommen nicht zur Ruhe vor lauter Streifzügen. Gerade waren wir zweiundzwanzig Tage in den Bergen. Sind eben erst zurück. Die Nacht über ruhen wir hier aus, und morgens geht’s schon wieder los, zwanzig Tage in die Berge.»
    «Die Bezahlung hier kannst du vergessen. Guck mal, zweiundzwanzig Tage mal dreihundert Mann – das sind schon sechshundertsechzig Manntage. Allein für diesen Streifzug. Tatsächlich kommen im Monat für die Brigade tausenddrei Kampftage raus. Dabei hat der Stab ein Limit: Maximum siebenhundert. Ich war da und hab nachgefragt.»
    «Am schwierigsten wird es sein, nach Hause zurückzugehen. Was soll ich dort machen, in der Division? Pläne zeichnen? Dort braucht mich niemand, verstehst du? Ach, scheiß drauf, nur noch eine Weile dienen, eine eigene Wohnung kaufen und dann auf alles gepfiffen.»
    Schon erkenne ich mich selbst in ihnen. Und wieder steht mir das Feld, immer dieses eine Feld, vor Augen. Irgendwo außerhalb der Stadt schießt eine einsame Selbstfahrlafette mit vertrautem Hämmern in die Berge. Auch die Gesprächsthemen haben sich kein bisschen geändert – Hunger, Kälte und Tod. Ja, Mensch, hier hat sich NICHTS geändert! Ich habe mich nicht getäuscht.
    Der Abgrund des Kampfgemetzels ist mit einer dünnen Eiskruste von Frieden überzogen, zum Schein. Darauf gemalt der Präsident in verschiedenen Perspektiven, zur Bequemlichkeit wurden Gehwege aus Betonplatten gelegt. Das Eis hält noch, aber es kann jeden Moment brechen.
    Unter dem Eis besäuft sich seit nunmehr zwei Jahren die Aufklärung, die von ihren Einsätzen und vom Blutvergießen halb wahnsinnig geworden ist. Die Männer stoßen gegen die Eisdecke, wollen raus, Frau und Kinder mitnehmen und weit, weit weg fahren, ein neues Leben beginnen, ohne Krieg, ohne Fremde töten und die eigenen Leute schützen zu müssen. Doch sie können es nicht. Sie sind in Tschetschenien wie festgewachsen.
    Und die Dedowschtschina, die Rekrutenschinderei in diesem Zeltlabyrinth, ist einfach grauenvoll; niemand wird je herausfinden, was in den Winkeln der Zeltplanen wirklich geschieht. Es versucht auch niemand. Wozu denn? Sterben ja sowieso alle. Die Patronen werden auch so in Säcken nach Grozny geschickt, und die Lazarette werden wie üblich mit zerfetztem Menschenfleisch versorgt. Angst und Hass regieren dieses Land noch immer.
    Und es riecht immer noch nach Diesel und Staub.
    ***
    Jetzt bin ich wieder in Mozdok, stehe wieder auf diesem Feld.
    Sieben Jahre. Fast ein Drittel meines Lebens, nicht viel weniger. Der Mensch verbringt ein Drittel des Lebens im Schlaf.

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