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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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von ihrer Seele ist nur die Hälfte geblieben. Sie haben es näher zum vollgerotzten Asphalt als zu den Gesichtern der Menschen. Und sie haben nicht mehr die Kraft, aufzustehen und auf ihren Kunststoffbeinen in ein neues Leben zu gehen. Nicht einmal das Verlangen. Diese jungen Männer wollen das Leben nicht mehr im Sturm erobern. Sie wollen nur eins – dass immer Krieg sei und dass sie immer in diesem Krieg seien.
    Ich sitze mit einem von ihnen auf dem Boden der Unterführung. Auf dem zerscheuerten Marmor eine Flasche Wodka, ein Soldatenbecher, eine Schachtel Zigaretten, Streichhölzer. Einziges «Mobiliar» sind eine Isomatte, ein kleines Kissen unter dem Hintern und ein Tonbandgerät. Wenn seine zwei Kameraden weggehen, bleibt er allein und spult auf dem Tonbandgerät bis zum Abend eine einzige Kassette ab – afghanische und tschetschenische Lieder. Einem Obdachlosen sieht er gar nicht ähnlich – sauber, glatt rasiert, tadellose Frisur. Der Tarnanzug gewaschen und gebügelt. Um Almosen bettelt er auch nicht – vor ihm auf dem Boden steht ein kleiner Topf, aber so, als hätte er nichts damit zu tun. Wer will, wirft Geld hinein, wer nicht, geht daran vorbei. Er pfeift drauf. Bedankt sich nicht bei Ersteren und schimpft nicht auf Letztere. Sitzt einfach da, hört Musik und raucht. Er ist gar nicht hier. Seine Kolonne wurde vor fünf Jahren aufgerieben, bei ihr ist er geblieben.
    Wie er heißt, weiß ich nicht. Was hat das auch für eine Bedeutung. Er ist mein Bruder. Sie alle sind meine Brüder. Ganz Moskau unter Brüdern. In jeder Unterführung sitzt mindestens einer.
    Er war es, der mich ansprach. «Wo hast du gekämpft, Bruder?»
    Ich sagte es ihm. Dann begann er zu erzählen. Wo, wann, wie. Erzählte, wie ihm das Bein abgerissen wurde – sie gerieten auf einem Schützenpanzer in einen Hinterhalt, die Granate schoss neben seinem Oberschenkel auf die Panzerung. Er wurde dabei nicht bewusstlos, sah sogar noch sein abgerissenes Bein. Ich fragte nicht nach, hörte schweigend zu. Und er redete. Ruhig, ohne Hysterie.
    «Ich verstehe diese Welt nicht. Diese Menschen. Wozu leben sie? Wofür? Sie sind ohne ihr Zutun geboren, sie mussten ihr Leben nicht dem Tod entreißen – lebt, Menschen! Aber was fangen sie damit an? Wollen sie vielleicht ein Medikament gegen Aids entwickeln oder die schönste Brücke der Welt entwerfen oder alle Menschen der Erde beglücken? Nein. Beschummeln wollen sie alle, möglichst viel Kohle scheffeln, mehr nicht. So viele Jungs sind umgekommen, richtige Jungs, und die spielen hier mit ihrem Leben wie mit einem Kätzchen, verstehen nicht, wozu sie auf der Erde sind. Nichtswürdige Menschen. Überflüssige. Eine ganze Welt von überflüssigen Menschen … Nicht wir sind die verlorene Generation, sondern sie, die nicht im Krieg waren. Wenn ihr Tod auch nur einen der Jungs wieder zum Leben erwecken könnte, würde ich sie alle umbringen. Ohne eine Sekunde zu überlegen. Jeder von ihnen ist mein persönlicher Feind.»
    Er steckt sich an dem Stummel seiner Zigarette eine neue an, gießt ein. Und lacht plötzlich, böse, hart, Hass lodert in seinen Augen auf.
    «Hast du nie daran gedacht, dass Nord-Ost eine Vergeltung war? Transvaal – eine Vergeltung! Die Rechnung für das Festmahl zu Zeiten des Tschetschenienkrieges. Wie kann man sich amüsieren, wenn zwei Flugstunden von hier Menschen andere Menschen umbringen? Dort sterben bis heute Kinder, verstehst du? Dort herrscht Hunger, und hier sind sie bereit, siebenhundert Rubel für eine Theaterkarte auszugeben – nur zur Unterhaltung! Von dem Geld kann man dort zwei Monate leben! Ich bin kriegsversehrt, ich begreife das nicht! Es will mir nicht in den Kopf! Ihr Land führt Krieg, und sie scheißen darauf! Dann scheiße ich auch auf sie. Nicht einer von ihnen soll sterben, ohne erfahren zu haben, was Krieg ist. Ich will, dass auch sie in den Nächten schreien und im Schlaf weinen und dass sie unters Bett kriechen, wenn auf dem Hof ein Silvesterknaller explodiert, und vor Angst winseln, so wie wir gewinselt haben!
    Auch sie sind schuld an unseren Toten, so wie die, die uns getötet haben, die uns in dieses Schlachthaus geschickt haben. Warum haben sie nicht gestreikt in Moskau und die Straßen gesperrt, als wir in Grozny umgebracht wurden? Erklär mir das! Warum haben sie nicht geschrien und sich die Haare gerauft, als sie im Fernsehen sahen, wie die Hunde die Leichen ihrer Kinder fraßen? Warum gab es keine Revolution, keinen Aufstand,

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