Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Ich – im Krieg.
Nichts hat sich verändert auf dieser Startbahn in den sieben Jahren. Und nichts wird sich verändern. Weitere sieben Jahre werden vergehen, und noch einmal sieben Jahre, immer noch werden die Zelte hier stehen, an genau dieser Stelle, dieselben Zelte, und an dem kleinen Brunnen werden sich die Menschen drängen, und die Rotoren der Hubschrauber werden sich drehen in einem fort.
Ich schließe die Augen und fühle mich wie eine Ameise. Hunderttausende sind wir, die wir auf diesem Feld stehen. Hunderttausende von Leben, so verschieden und doch so ähnlich, ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Wir waren hier, wir lebten und starben, und die Gefallenenmeldungen wurden in alle Ecken und Enden Russlands gesandt. Ich bin eins mit ihnen allen. Und wir sind eins mit diesem Feld. In jeder Stadt, in die eine Gefallenenmeldung ging, ist ein Teil von mir gestorben. In jedem Augenpaar, in all diesen vom Krieg ausgebrannten jungen Augen, ist ein Stück von diesem Feld geblieben.
Manchmal ziehen mich diese Augen in ihren Bann, dann gehe ich zu ihnen hin. Nicht oft. Im Sommer. Wenn ein Lastwagen die stickige Straße entlangfährt und der Dieselgeruch sich mit dem Staub mischt. Und mich ein bisschen die Schwermut überkommt:
«Kamerad, gib mal Feuer … Wo hast du gekämpft?»
Dem Unrecht ein Feind bis zum letzten Tag
Am zwölften Juli 1996 stand eine Kolonne mit humanitärer Hilfe auf dem Feld in Mozdok – ein Begleitschützenpanzer und zwei Ural-Laster.
«Marschroute: Mozdok, Malgobek, Karabulak, Region Atschchoj-Martanowskij, Tschetschenien, Ort der Kampfhandlungen. Nachrichtenkompanie zu mir, auf den ersten Wagen, Eskorte an die Seiten und hinter uns», befahl Oberst Kotjonotschkin und schwang sich als Erster auf den Schützenpanzer.
Die Nachrichtenkompanie – fünf fürchterlich erschöpfte Jungs mit Maschinenpistolen – kletterte ihm hinterher. Kotjonotschkin warf ihnen eine Tüte hin: «Nehmt das, Jungs, ein Wahlgeschenk von Jelzin.» Die Tüte enthielt Bonbons in blauem Glanzpapier und Limonade.
Die Kolonne setzte sich in Bewegung.
Am Kontrollposten stand ein blutjunger Rekrut mit Helm und Schutzweste auf der nackten Haut. Mit dem Blick eines gehetzten Tieres. Der Feldwebel warf ihm eine Handvoll Bonbons zu. Der Rekrut lächelte schwach.
Die Kolonne erreichte die Hauptstraße und fuhr in Richtung Bergkamm. Auf dem führenden Schützenpanzer hielt Untersergeant Babtschenko, Kommandeur der Nachrichtenabteilung, links und rechts die Augen offen. Der Wind entriss seinen Händen blaues Bonbonpapier und klebte es an den Kühlergrill des nachfolgenden Ural. Die Kolonne passierte die Abzweigung nach Malgobek und verschwand hinter einem hohen Feld.
Sie sollte nie mehr so zurückkehren.
Uns ist nichts geblieben außer uns selbst. Alles, was wir haben, sind nur unsere Kameraden, «denn nichts geht über die Bereitschaft, das eigene Leben für die Freunde herzugeben». «Alles, was wir vom Leben wissen, ist der Tod.» Alles, was wir lieben, ist nur unsere Vergangenheit, gespenstisches Trugbild in einer tosenden Welt.
Wir haben diesen Krieg verloren, jetzt lecken wir in den Lazaretten unsere Wunden. Aber wir sind am Leben. Das bedeutet, die Operation «Leben» geht weiter. Die neue Kolonne wartet schon am Ausgang des Kontrollpunktes.
Sind alle dafür bereit?
Ich als Mahnruf
Innerhalb von zehn Jahren sind etwa eine Million Wehrpflichtiger durch Tschetschenien gegangen. Die Bevölkerung einer Großstadt. Fünfzig Divisionen, zum Töten geschult. Diese Männer kommen ins Zivilleben zurück und bringen ihre eigene Philosophie mit. Die Philosophie des Krieges. Ave Caesar, morituri te salutant – Heil dir, Caesar, die Todgeweihten grüßen dich!
Man trifft sie in den Unterführungen. In der Nähe meiner Metro sitzen jeden Morgen drei von ihnen. Auf diese drei kommen fünf Medaillen, sechs Krücken, zwei Prothesen und ein einziges Bein. Den Hass teilen sie sich auch. Hass auf die ganze Welt.
Schon seit einigen Jahren kommen sie hierher und singen ihre Lieder. Immer ein und dieselben. In ein und derselben Reihenfolge. Zuerst «Vom Himmel regneten brennende MiGs», dann «Blutrotes Tschetschenien», «Elend starben die Jungs», «Weihnachten. Tote Stadt» und dann noch irgendwelche eigenen Lieder, die niemand kennt. Sie singen schlecht, aber das schert sie nicht. Sie hassen jene, für die sie singen.
Sie sehen die Welt von unten. Nicht weil von ihrem Körper nur eine Hälfte geblieben ist. Auch
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