Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
keinen zivilen Ungehorsam? Wie konnten sie ihre Söhne ins Schlachthaus schicken und sich selbst amüsieren, leben, Bier trinken und Geld verdienen, während verwundete Tschetschenenkinder in den Kellern faulten, ihre zerfressenen Hände mit dreckigen Lumpen verbanden und die Maden in ihren Wunden krabbelten? Wie konnten sie leben, als die Keller voller Verwundeter waren und die Jungs ihre eigenen Därme um die Faust wickelten?
Auch sie sind schuld an diesen Toten. Wir sind gekommen, unseren Teil zu holen. Wir werden töten … Seid darauf gefasst.»
Sein Hass erlischt so abrupt, wie er aufgeflammt war. Wieder trübt Teilnahmslosigkeit seinen Blick.
«Überall Halbwahrheiten, Halbaufrichtigkeit, Halbfreundschaft. Ich kann so nicht. Bei denen hier, im Zivilleben, ist eine Halbwahrheit eine kleine Wahrheit, und bei uns dort, im Krieg, ist eine Halbwahrheit die große Lüge. So viele Jungs sind gefallen, und ich habe überlebt. Ich frage mich die ganze Zeit – wofür? Sie waren besser als ich, dennoch habe ich überlebt. Also doch nicht einfach so! Vielleicht habe ich nur überlebt, damit sie an uns denken? Ich als Mahnruf.»
Wieder lacht er böse.
Ich stehe auf. Schweigend. Lass ihm was zu rauchen da, Streichhölzer, den Wodka. Mehr hat keinen Sinn – bloß kein Geld. Er sieht mich nicht einmal an. Ich bin für ihn einer von «denen». Das heißt, alles was ich sage, sind Halbwahrheiten.
Saschka Lajs
Am Standort des 45 . Aufklärungsregiments der Luftlandetruppen steht eine Gedenkstele. In den schwarzen Marmor sind die Namen jener Fallschirmjäger eingraviert, die in den zwei Tschetschenienkriegen gefallen sind. Als einer der letzten Namen ist der von Alexander Lajs hinzugekommen – seine Einheit hatte lange kein Geld, sich darum zu kümmern.
Immer wenn Hauptmann Wladimir Schabalin hierherkommt, bringt er die einzige im Bataillon erhaltene Fotografie von Alexander sowie frische Blumen mit. Nach alter Tradition stellt er ein Glas Wasser ab und legt ein Stück Schwarzbrot darauf. Lange steht er neben dem Denkmal und schaut innerlich in die Gesichter derer, die aus dem Krieg nicht heimgekehrt sind.
«Hier sind alle seine Daten», reicht mir der stellvertretende Bataillonskommandeur Major Agapow die Mannschaftsliste des zweiten Regiments.
Ich lese: «Alexander Wiktorowitsch Lajs, Gardeschütze, MG -Schütze, geboren in Neninka, 1982 –2001 …»
Alexander Wiktorowitsch … Damals, im Jahr 2001 , war er erst neunzehn Jahre alt. Und alle nannten ihn einfach Saschka – Saschka Lajs. Er starb am siebten August, nachdem er eine Woche im Krieg gewesen war.
«Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen», sagt Major Agapow. «In Chankala, ich war damals Aufnahmeoffizier, und sein Kommando war eben erst in Tschetschenien eingetroffen. Ich kann nicht sagen, dass er mir sofort aufgefallen wäre. Nein. Ein normaler Junge, ein einfacher Soldat. Er hatte nichts Heldenhaftes an sich, er war ein Soldat wie alle anderen. Aber mir ist er aus irgendeinem Grund in Erinnerung geblieben. Wegen seines Nachnamens vermutlich. Oder weil er ein guter Mensch war. Hier, nehmen Sie die Fotografie. Aber bitte zurückgeben.»
Lajs war aus dem kleinen Dorf Neninka im Altai in den Krieg gezogen. Zehn Jahre hatte er dort gelebt. Das letzte Jahr vor dem Wehrdienst verbrachte Sascha bei Großmutter und Großvater. Seine Mutter war mit seiner kleinen Schwester und dem Stiefvater, einem Nachfahren deportierter Deutscher, nach Deutschland ausgewandert. Sie waren überzeugt, dass der Sohn ihnen nach Abschluss des Lyzeums in Bijsk folgen würde. Aber dann brach der Zweite Tschetschenienkrieg aus, und Sascha traf eine Entscheidung. Er versuchte gar nicht erst, sich vor der Armee zu drücken, obwohl er allen Grund und alle Möglichkeiten dafür gehabt hätte. Er trat seinen Dienst freiwillig an.
Heute erinnert sich seine Lehrerin Natalja Kaschirina, dass Sascha im Gegensatz zu vielen Klassenkameraden in der Armee dienen wollte: «Wissen Sie, er war kein Drückeberger. Sascha gehörte zu jenen Menschen, für die Begriffe wie Pflicht und Vaterland keine leeren Worte sind. Er wusste, dass er das Vaterland verteidigen musste. Und er ging bereitwillig zur Armee.»
Jelena Iwanowna und Alexander Iwanowitsch bekamen während seines Wehrdienstes fast jede Woche Briefe von ihrem Enkel. Sie bewahrten sie zu Hause auf und lasen sie abends beim Tee. Den letzten Brief aus Moskau, wo Alexander diente, können sie auswendig: «Guten Tag, Oma und Opa. Wie
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