Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
wo Russen ihr Leben ließen, wie auf dem Kulikowo Pole – dort ist es, gleich hinter dem Zaun.
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Der zwiespältige Eindruck ist jetzt das vorherrschende Gefühl eines Tschetschenien-Besuchers. An jedem beliebigen Punkt scheint heute Frieden zu herrschen. Und doch auch wieder nicht. Der Krieg ist ganz in der Nähe – in Starye Agaty, wo vier FSB -Männer getötet wurden, in Grozny, wo ständig Sprengfallen explodieren, oder in Urus-Marta, wo der Krieg mit der Maschinenpistole im Hinterhalt lauert – er ist da, irgendwo dort, aber nicht hier. Hier ist es still. Hier schießen sie nur, wenn die roten Fähnchen gehisst werden.
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Die Armee in Tschetschenien befindet sich in einer Pattsituation. Große Banden gibt es hier längst nicht mehr. Keine Front, keine Partisaneneinheiten, keine Rebellenkommandeure.
«Bassajew und Chattab gehen schon seit drei Monaten nicht mehr auf Sendung», sagt der Befehlshaber der Tschetscheniengruppe der Streitkräfte des Innenministeriums, Generalleutnant Abraschin. «Möglich, dass sie gar nicht mehr in Tschetschenien sind. Ist auch nicht gesagt, dass sie in Georgien sind. In der Dschejrachskoje-Schlucht bei uns in Inguschetien werden sie in Ruhe gelassen.»
Im Großen und Ganzen gibt es keinen Krieg mehr in der Republik. Jedenfalls nach meinem Verständnis. Dafür herrscht eine Wahnsinnskriminalität. Ein ausgedienter Rebell, eine Autorität, sucht sich seine Bande von Ganoven zusammen, in der Regel drei bis fünf junge Männer. Das ist dann seine Gang. Sie kämpfen nicht nur gegen die Föderalen. Bekommt sie einen lukrativen Auftrag, stellt die Bande auch mal Sprengfallen auf. Ansonsten zieht sie los, raubt friedliche Bewohner aus oder kämpft mit einer anderen Bande um Erdöl. Das Geld entscheidet alles. Einen «Bullen» umzulegen ist für sie eine Sache der Ehre. Im Vorübergehen, so zwischendurch.
«Mein Mann arbeitete bei der Sondermiliz OMON », erzählt die Händlerin Chawa. «Im Sommer sind in seiner Einheit neununddreißig Mann umgekommen. Sie wurden mitten auf der Straße umgebracht, mit einem Schuss in den Hinterkopf. Vor einer Woche haben sie den Nachbarn getötet, gestern seinen Sohn. Beide waren bei der Miliz beschäftigt.»
Die Armee kann die Kriminalität nicht bekämpfen – es gehört nicht zu den vordringlichen Aufgaben eines Regiments oder einer Division, Verbrecher zu jagen. Stellt euch folgende Situation vor: Moskau hat den Raub und Diebstahl vor seiner Haustür satt, deshalb wird auf dem Roten Platz ein Regiment stationiert, das für Ordnung sorgen soll. Mit Panzern, Flak und Scharfschützen. Tagsüber streuen die Militärs mit Sand gleichmäßige Wegmarkierungen auf die Pflastersteine des Kreml und stellen Porträts des Präsidenten auf. Nachts verbarrikadieren sie sich in ihrem Lager, schießen auf alles, was raschelt, und aus ihrem Kontrollpunkt wagen sie sich nie. Wird dadurch die Räuberei in Tuschino aufhören? Und wenn dann noch der Polizeichef und der Präfekt von Tuschino ganz auf der Seite der lokalen kriminellen Autorität, des Tschetschenen Schamil, stehen und ihn bei der letzten Schießerei gegen die Bullen unterstützt haben?
Aber abziehen kann man die Truppen auch nicht – dann würde sich wiederholen, was in Chassaw-Jurt passiert ist.
«Wir sind die ganze Zeit nur mit Säuberungen beschäftigt», erzählt Fidel, Kommandeur der Sondereinsatztruppe. «Wenn wir ein Dorf regelmäßig säubern, ist es dort relativ ruhig. Bleiben die Säuberungen ein, zwei Monate lang aus, wagt man sich dort besser nicht rein. Du wolltest nach Grozny fahren? Ich rate dir gut – tu das nicht. Grozny ist schon seit einem Monat nicht gesäubert worden. Ich selbst habe Angst, dorthin zu fahren. Und von Schali halt dich auch fern – das Dorf ist brandgefährlich geworden.»
Am ersten März 2000 wurde in der Schlucht von Argun die sechste Kompanie der Luftlandedivision aus Pskow vernichtet. «Wie die ‹Sechs› umkam, ist eine Sache für sich», erzählt ein Überlebender. «Ich selbst befand mich damals in der Schlucht, zwanzig Kilometer von ihnen entfernt. Mein Bataillon stand bei Schatoj. Nachts hörten wir ihren Kampf, wir hörten sie sterben. Wir konnten ihnen nicht helfen, der Befehl zum Ausrücken kam nicht, wir warteten darauf, wir waren bereit. Zwanzig Kilometer – mit dem Hubschrauber sind es drei Minuten. Auf dem Schützenpanzer drei bis fünf Stunden. In fünf Stunden hätten wir dort sein können. Aber der Befehl kam nicht.»
Der Kampf
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