Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
einer lebensmüde.› Ich fahr abends, damit niemand es sieht, dahin, ziehe mir einen Patientenpyjama an, rolle am Morgen im Rollstuhl auf den Flur, durch die Krankenzimmer, schließe mit den Jungs Bekanntschaft. Damit sie mich in Erinnerung behalten – genauso einer ohne Beine wie sie. Und abends lege ich die Prothesen an, die Paradeuniformjacke, und komme zu ihnen ins Krankenzimmer, als wäre nichts – ‹Ich geh einkaufen, Jungs, wem soll ich was mitbringen?› Da machen die vielleicht große Augen. Mehr braucht es nicht. Die beste Medizin. Später hab ich im Fernsehen gesehen, wie einer von ihnen mit dem Fallschirmspringen anfing, nach dem Motto: Burkow hat mir geholfen, soll ich das schlechter können als er?»
Die von ihm erarbeiteten «Vorschläge zur Chancengleichheit für Invaliden» sind von der UN -Generalversammlung, die Burkow als Ehrengast eingeladen hat, verabschiedet worden.
«Im Westen haben sie meine Arbeit viel früher zu würdigen gewusst. Bei uns dagegen wurde das Amt des Präsidentenberaters abgeschafft. Aber ich bin froh, dass ich nichts mehr mit den Machthabern zu tun habe. Es war unerträglich, diese Willkür mit anzusehen … Lieber drei Jahre in Afghanistan als ein Jahr in der Regierung. Da siehst du von innen, wie Russland betrogen wird, wie die Leute an der Nase herumgeführt werden. Schon damals hatte ich das allmählich satt, jetzt bekam ich wieder damit zu tun. Nur dass ich damals klein beigegeben habe, während ich heute unerbittlich bleibe.»
Am sechsten Juli dieses Jahres haben die Helden der Sowjetunion einen Hungerstreik begonnen, der einundzwanzig Tage andauerte. Sie protestieren gegen die Verabschiedung von Änderungen im «Gesetz über den Status der Helden», durch die Vergünstigungen abgeschafft und ihrer Meinung nach der Begriff der «Heldentat» selbst entwertet wurde. All das unter der Begleitmusik offizieller Aufrufe zur Erziehung zum Patriotismus und dazu, dass es endlich Zeit sei, sich von den Knien zu erheben. Der Hungerstreik blieb bislang leider erfolglos – Wladimir Putin hat das Gesetz bereits unterschrieben.
«Die Machthaber sind krank. Sie müssen zum Arzt – zum Volk», glaubt Walerij Anatoljewitsch.
Es geht auf Mitternacht zu. Ich muss gehen, damit ich die letzte U-Bahn kriege. Walerij Anatoljewitsch schüttelt mir die Hand.
«Kommen Sie mal wieder vorbei, Sie kennen ja jetzt den Weg. Hungern werden wir wohl noch eine ganze Weile.»
Ich trete hinaus auf die Straße. Es ist Nacht, die Laternen leuchten. Aus dem Metroeingang dröhnt Musik, die Leute quetschen sich in die Routentaxis. An einer Kreuzung hupt ununterbrochen ein BMW . Moskau geht seinem Alltag nach. Dass ganz in der Nähe die Helden der Sowjetunion hungern, ist den Leuten scheißegal.
Für alles muss man zahlen. Für Gleichgültigkeit doppelt. Jeder bekommt schon mit der Geburt seinen Anteil an Leiden und Glück mitgegeben. Und jeder muss seinen Kredit abbezahlen, bis zum Ende. So ist es abgemacht. Wir beginnen bei null und hören bei null auf. Der Kreis muss sich schließen. Man kann nicht sein ganzes Leben als glücklicher Wiederkäuer verbringen. Wenn du deinen Teil Gleichgültigkeit verbrauchst, ohne deinen Teil Mitleid eingesetzt zu haben, dann gehen deine Leiden auf deine Kinder über. Aber in vielfacher Potenz. Das ist unausweichlich. Deshalb muss am Ende immer eine Null stehen.
Russland und der Krieg
Russland ist ein Land des Krieges. Seit den türkischen Feldzügen hat es bei uns ungefähr alle fünfundzwanzig Jahre einen Krieg gegeben. Einen in jeder Generation.
Das vergangene Jahrhundert bildet eine Ausnahme. Der Bürgerkrieg, der finnische, der Vaterländische, Ungarn, Tschechoslowakei, Vietnam, Kambodscha, Ägypten, Angola. Und ganz zuletzt – Afghanistan, Jugoslawien, Bergkarabach, Tadschikistan, Tschetschenien …
Assoziierte man das Wort «Veteran» früher ausschließlich mit dem Großen Vaterländischen Krieg, so verjüngt sich diese soziale Schicht, im Unterschied zum Rest des Landes. Wer 1995 als Soldat in Tschetschenien war, ist heute keine vierzig. Eine neue Generation, Reinkarnation.
Diese Menschen bilden eine eigene und nicht die kleinste Gruppierung in unserer Gesellschaft. Mit ihren ganz eigenen Traditionen, ihrer Erinnerung, ihren Helden, Problemen und Herausforderungen. Noch ein Volk eines wieder anderen Russlands.
Ich habe einen guten Bekannten, der ist Regisseur bei einem der großen Fernsehsender. Kleidet sich gut, geht ins Casino, Auto,
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