Ein toedlicher Verehrer
Fenster, nichts war umgestellt.« Mehr konnte er ihr auch nicht sagen.
»Ich hoffe nur, dass er nicht mehr oben war«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Ich hoffe nur, dass er mir nicht entwischt ist. Ich hätte hochgehen sollen. Ich hätte nachschauen sollen.«
»Nein, Sie hätten -«
»Ich hätte ihn abgeknallt«, sagte sie nur.
9
Sarah fühlte sich angespannt, zu Tode erschöpft und emotional ausgelaugt, als sie Barbara und ihre Familie am nächsten Morgen um sechs Uhr früh vom Flughafen Birmingham abholte. Sie wartete unten an der Gepäckausgabe, einen Becher Kaffee in der Hand. Sie hatte keine Ahnung, die wievielte Tasse es war, seit sie den toten Richter gefunden hatte, aber sie war absolut überzeugt, dass allein das Koffein sie noch auf den Beinen hielt.
Sie hatte kein Auge zugetan; dazu hatte sie gar keine Gelegenheit gehabt, selbst wenn sie gewollt hätte. Cahill war ständig mit neuen Fragen zu ihr gekommen, und auch sonst hatte sie alle Hände voll zu tun gehabt. Die Betroffenen mussten informiert werden; die Kinder des Richters wurden von der Polizei benachrichtigt, aber sie hatte Leona angerufen und sie mit der grässlichen Nachricht geweckt, weil sie nicht wollte, dass die Köchin sie aus den Frühnachrichten erfuhr. Anschließend hatten die Angehörigen des Richters bei ihr angerufen, und zwar so oft, dass sie mehrmals mit dem Handy und dem Festnetzapparat gleichzeitig telefoniert hatte.
Es mussten Vorbereitungen getroffen werden, um die Familie zu beherbergen. Randall und seine Frau Emily hatten drei Kinder, die verheiratet waren und selbst schon Kinder hatten. Da alle in der Gegend um Huntsville wohnten und problemlos mit dem Auto herfahren konnten, würden nur Randall und seine Frau anreisen und bis nach der Beisetzung bleiben, aber in der Nacht vor der Beisetzung würden auch die übrigen - drei Kinder mit ihren Ehegatten plus vier Enkel - kommen.
Jon und seine Frau Julia lebten in Mobile. Sie hatten zwei Kinder, von denen eines verheiratet war. Sie würden alle miteinander kommen. Barbara und Dwight lebten mit ihren beiden Kindern in Dallas und würden bleiben, bis die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren. Das bedeutete, dass Sarah mitten in der Nacht eine Übernachtung für sich und zehn weitere Leute finden musste, und zwar mit der Möglichkeit, früh, sehr früh einzuchecken. Um den Rest von Randalls Familie würde sie sich kümmern, wenn die Arrangements für die Beisetzung getroffen waren.
Sie hatte alle zusammen im Wynfrey gleich neben der Galleria unterbringen können. Wahrscheinlich würden sie zu den unmöglichsten Zeiten essen, darum brauchten sie ein Hotel mit Zimmerservice, und die älteren Kinder konnten sich zwischendurch im Einkaufszentrum die Zeit vertreiben. Sie selbst hatte ein Zimmer im Mountain Brook Inn genommen. Die Neuigkeit, dass sie nicht im Haus bleiben und nicht einmal ihre persönlichen Sachen mitnehmen durfte, hatte sie wie ein Schock getroffen. Sie hatte Cahill eine Liste mit allem Notwendigen übergeben, und er hatte dafür gesorgt, dass ihr jemand die Sachen bringen würde.
Ihre Pistole war ebenso beschlagnahmt worden wie der alte Dienstrevolver des Richters, den er in einer abschließbaren Vitrine aufbewahrt hatte. Cahill versprach, dass beides nach Abschluss der Ermittlungen wieder zurückgegeben würde, also sobald feststand, ob eine der beiden Waffen bei dem Verbrechen verwendet worden war.
Ganz offenkundig stand sie unter Verdacht, und sei es auch nur, weil sie dem Richter so nah gewesen war. Sie konnte nach Belieben im Haus ein- und ausgehen, sie besaß eine Pistole, und Cahill hatte mit eigenen Augen gesehen, wie geschickt sie damit umging. Sie hatte ein Alibi, wenngleich das nur aus Quittungen und Eintrittskarten bestand, aber vor allem hatte sie keinerlei Motiv, darum hatte sie keine Angst um sich selbst; das konnte sie gar nicht, nicht solange die Erinnerung an den Leichnam des Richters immer wieder vor ihrem inneren Auge vorüberzog wie ein Stummfilm in einer Endlosschleife.
Sein Leichnam hatte so ungeheuer zerbrechlich ausgesehen, fast als hätte seine lebhafte Art überdeckt, wie sehr die Zeit ihm zugesetzt hatte. Sie empfand grimmige Erleichterung darüber, dass sie ihn gefunden hatte, dass ihnen ein letzter Augenblick zu zweit vergönnt gewesen war, ehe das Haus von Fremden überrannt wurde, die seine Leiche für sich beanspruchten. Die
Toten haben keine Würde, trotzdem wusste sie, dass es ihm unaussprechlich peinlich gewesen wäre,
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