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Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now

Titel: Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Das könnte so weitergehen, und die Zeit, die einem zur Verfügung steht, ist beschränkt. Und einiges davon, wie zum Beispiel das, was ich jetzt höre (die Holberg-Suite von Grieg), führt mich zurück, wie ich bereits zu erklären versucht habe, in eine verlorene Zeit und zu verschwundenem Glück, aber irgendwie geht es um Verlust an sich, was nie war oder hätte sein können oder war und sehr schnell wieder verging. Ich würde sehr gern das, was ich jetzt höre und was ich dabei empfinde, mit dem zornigen Moslem in Verbindung bringen. Wäre meine frühere Frau jetzt hier, könnte ich ihr vielleicht diese Frage stellen. Und es könnte sein, daß sie sie nicht als völlig albern abtun würde, auch wenn sie vielleicht ihrem Respekt vor meinem neugefundenen Interesse an der Kunst abträglich wäre.

KAPITEL FÜNF
    N och dreimal habe ich die Witwe besucht. Die jungen Leute scheinen verschwunden zu sein, und das vordere Zimmer riecht feucht und schal, wie seit Jahren nicht mehr benutzt. Jedesmal führte sie mich in das Zimmer ihres Mannes, wo neue Rechnungen und Korrespondenz auf mich warteten. Das meiste war nur Werbemüll, den ich in den Papierkorb warf. Wenn ich kam und ging, versuchte ich, Konversation zu machen: das Wetter, die Kopfsteuer, eine Nachrichtenmeldung im Fernsehen aus ihrem Teil der Welt — aber sie reagierte nicht. Oder ich versuchte, ein paar Fragen einzuschieben: Habe sie Freunde, die sie besuchen könne, was sei mit den Untermietern passiert, denke sie daran, irgendwann einmal nach Polen zurückzukehren? Aber ich glaube nicht, daß sie sie überhaupt als Fragen verstand. Sie hatte sich völlig von der Welt abgeschlossen, den Körper eingewickelt in dieses abgetragene, schwarze Kleid mit dem hohen, schiefen Kragen, die Hände verschlungen wie zu einem knöchernen Knoten, der den letzten Rest ihrer Kraft umklammert, das Gesicht vor mir versteckt wie Nacktheit. Sie hat mir noch immer nicht gedankt, auch Kaffee hat sie mir keinen mehr angeboten. Ich bin mir inzwischen sicher, daß sie mich für irgendeinen Beamten hält, der nur seine Pflicht zu erfüllen hat. In ihren Augen ist nicht mehr viel zu lesen: eine flüchtige Halsstarrigkeit vielleicht oder eine verwirrte Unschuld. Gesprochen hat sie nur zweimal mit mir: Beim ersten Mal sagte ich ihr, es könne sein, daß ihre Kopfsteuer demnächst fällig werde, die Regierung habe aber noch keine Entscheidung gefällt, und unter der früheren sei das nicht so gewesen. Ich stand in der Tür zu ihrem Zimmer, wo sie mit einer neuen Adler-Tapisserie
auf dem Schoß dasaß, bei der sie diesmal mit dem goldenen Schnabel begonnen hatte.
    »Immer wir zahlen Steuer«, sagte sie, kaum mehr als ein Flüstern, den Blick auf ihre Hand gerichtet, die den goldenen Faden straff zog. »Einige Leute zu viel Geld.«
    Das wäre eigentlich mein Stichwort gewesen, aber ich ging nicht darauf ein. Schon bald würde Foster ihr die Miete erhöhen oder noch Schlimmeres, aber ach Gott, sagte ich mir immer wieder, ich will nicht, daß das irgendwas mit mir zu tun hat. Dieses Mal brachte sie mich zur Tür und berührte mich am Arm.
    »Paß nicht gut?« fragte sie.
    Ich hatte das einmal erwähnt, um dadurch vielleicht herauszufinden, ob sie nach Polen zurückkehren wollte, wie ihr Mann es gewollt hatte. Deshalb erschien mir ihre Frage vielversprechend, doch dann merkte ich, sie hatte nur Angst, es könne illegal sein, einen abgelaufenen Paß zu besitzen.
    »Schon ewig abgelaufen, fürchte ich. Aber wissen Sie, was? Ich besorge Ihnen ein Formular, und das füllen wir dann gemeinsam aus. Aber Sie müssen sich neue Fotos machen lassen.«
     
    Und genau das haben wir heute getan. Ich brachte sie zu einem Fotografen mit Glatzkopf und Augenbrauen in einem Zustand permanenter höchster Überraschung über einer kleinen Omabrille. Er zeigte mir die Fotos, und ihr Gesicht starrte mich an, der Mund verzogen, als würde der Spitzenkragen sie erdrosseln.
    »Soll ich sie noch einmal machen?« fragte er. »Auf Paßfotos soll man nicht expressiv sein, oder wie immer man das nennt. Ich bin ja nebenbei auch Kunstfotograf, auch wenn man mir das vielleicht nicht ansieht, und da bin ich immer auf der Suche nach solchen Gesichtern, die Gefühle zeigen. Unbeobachtet, so nennt man das. Kinder natürlich, die schneiden so Grimassen, probieren sie aus, bevor sie das Gefühl wirklich haben oder so in der Richtung.«
    »Vielleicht wär das besser, ja«, sagte ich. Wir schauten sie an, wie sie am Fenster stand und

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