Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Sein Nacken war hart wie Granit, und jetzt fühlte es sich auch noch so an, als würde eines seiner Augenlider anfangen zu zucken.
«Ich muss Ruben zustimmen, ich finde, er sieht nervös aus», sagte Jacques, der mit ausgestreckten Beinen in einem Lehnstuhl saß.
«Unsicher und rotwangig», stimmte Johan vergnügt zu. Er lehnte sich an den Fensterrahmen und tauschte einen vielsagenden Blick mit dem Franzosen.
Seth murrte etwas Unverständliches. Seine Freunde zogen ihn schon seit einer Viertelstunde auf. «Wenn ihr zwei nichts Vernünftiges zu sagen habt, dann könnt ihr einfach gehen», moserte er die beiden grinsenden Männer feindselig an. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, doch weder Johan noch Jacques machten Anstalten, das Zimmer zu verlassen, im Gegenteil, sie fühlten sich ganz wie zu Hause.
«Wir überwachen nur die Situation», erklärte Jacques.
«Damit du nichts Unüberlegtes tust», fügte Johan hinzu.
Jacques inspizierte seine blankgewienerten Schuhe. «Ich war gar nicht nervös, als ich Viv geheiratet habe», teilte er mit. «Aber ich bin natürlich auch ein anderes Kaliber …», sagte er. «Er mag ja groß und gefährlich aussehen, aber eigentlich ist er nur ein kleiner verliebter Junge.»
Johan krümmte sich vor Lachen und klopfte sich auf die Schenkel. Auch Jacques wollte sich schier ausschütten.
«Ich habe ihn noch nie verängstigt gesehen», fuhr der Franzose munter fort. «Von diesem Anblick werde ich noch lange zehren. Die Mördermaschine des Deutsch-Französischen Krieges, der meistgefürchtete Industriekapitalist Europas, Feind Nummer eins der Aristokratie – schlotternd wie ein neugeborenes Lamm.»
Seth machte einen Schritt auf Jacques zu, und Johan wechselte rasch das Thema. «Hast du übrigens schon das Neueste von Edvard Löwenström gehört?», fragte er.
Jacques hörte sofort auf zu lachen. «Was ist mit Edvard?», erkundigte er sich ernst und warf einen argwöhnischen Blick zu Seth, der jedoch nur den Kopf schüttelte.
«Er ist doch im Frühjahr verschwunden», begann Johan, dem die stumme Zwiesprache zwischen den beiden entgangen war. «Offenbar war er in Deutschland, und da ist es ihm so richtig schlecht ergangen.»
«Tatsächlich?» Jacques warf Seth erneut einen fragenden Blick zu, doch der sah ihn nur mit ausdrucksloser Miene an. «Inwiefern?», wollte Jacques wissen. «Wieso ist es ihm schlecht ergangen?»
Johan lehnte sich wieder an den Fensterrahmen und zog eine Grimasse. «Details weiß ich auch nicht, aber er ist in einem Gasthaus in München wohl über ein Mädchen hergefallen. Er schleppte sie in eine Gasse und vergewaltigte sie, doch als er sie zwingen wollte, ihn in den Mund zu nehmen, da biss sie ihm den … na ja … äh …» Johan machte eine bedeutsame Geste auf seinen Schritt und die drei Männer stöhnten leise auf. «Und sie war nicht nur mit ihren Zähnen bewaffnet», fuhr Johan fort. «Anscheinend hat sie anschließend auch noch ein paar Mal mit dem Messer zugestochen. Es war reines Glück, dass er überlebt hat.» Johan schauderte. «Wenn man das nun Glück nennen will. Weder sein Auge noch sein … äh … ihr wisst schon … waren zu retten.»
Es wurde ganz still im Zimmer. Jacques runzelte die Stirn, und Ruben bürstete unsichtbare Staubkörnchen von Seths Frack, ohne aufzusehen.
Seth starrte aus dem Fenster. Zwei Wochen hatten Henriksson und seine Leute gebraucht, um Edvard in einem Münchner Armenviertel aufzuspüren. Und dann war Seths handfester Diener Ruben angereist, um Edvard zu erläutern, welche Vorteile es für ihn haben könnte, Europa zu verlassen und sich vielleicht auf einer der Westindischen Inseln niederzulassen, wo er – mit finanzieller Unterstützung von Seth – für immer bleiben sollte. Doch derartige Hinweise waren gar nicht mehr notwendig gewesen.
Der sadistische Edvard war ein letztes Mal zu weit gegangen und nun doch durch seine eigene Schuld zu Fall gekommen. Er konnte froh sein, dass er überhaupt noch lebte, dachte Seth. Wenn man so etwas als Leben bezeichnen wollte … Edvard hielt sich derzeit in einem Sanatorium in der Schweiz auf. Den Arztberichten zufolge, die Seth zugeschickt worden waren, war er entmannt und auf einem Auge blind. Außerdem konnte er aufgrund einer Lungenverletzung nur mühsam atmen und litt unter Schwindelanfällen. Es gab keine Hoffnung, dass seine verletzten Körperteile jemals ihre Funktion wiedererlangen würden. Seth bezweifelte sogar, dass Edvard überhaupt
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