Ein verfuehrerischer Handel
sollen wir diese ... Freundschaft aufbauen?«, fragte er leise. Seine Hand strich über ihre Schulter, und er ließ die Haarsträhne zurückfallen an ihren Platz. Das Prickeln in ihrem Körper wurde zu einer Gänsehaut, die langsam ihren Arm überzog.
Sicher ist es die Hoffnung, dachte sie, die mein Herz schneller schlagen lässt. Wenn er damit einverstanden war zu warten, bis er von ihr verlangte, in sein Bett zu kommen, dann hätte sie vielleicht genügend Zeit, ihn noch einmal zum Uberdenken ihres Handels zu bewegen.
»Ich bin noch nie in London gewesen«, meinte sie, und ihr gelang ein zittriges Lächeln. »Seit meiner Ankunft habe ich nur sehr wenig von der Stadt gesehen. Vielleicht könntet Ihr mir einige der Sehenswürdigkeiten zeigen.«
»Sehenswürdigkeiten? Was für Sehenswürdigkeiten?«
Ariels Verstand arbeitete heftig, sie rang um eine Antwort, die ihre Rettung bedeutete. »Die Oper vielleicht. Oder ein Schauspiel! Ich würde wirklich gern einmal ins Theater gehen. Shakespeare vielleicht. Schon immer wollte ich gern einmal König Lear sehen. Ihr lebt hier in der Stadt. Ihr kennt doch sicher einige Besonderheiten Londons. Ich würde wirklich gern alles anschauen, was Ihr vorschlagt.«
Er schien darüber nachzudenken. Abermals wandte er ihr den Rücken zu und betrachtete eingehend die Äste, die gegen das Fenster schlugen. »Also gut, Miss Summers.« Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. »Für den Augenblick werden wir Eure ... Verpflichtungen postponieren. Ich habe lieber eine willige Frau in meinem Bett als eine, der man Befehle erteilen muss.«
Ariel schwankte, eine Woge der Erleichterung hüllte sie ein - und zwar so stark, dass sie sich schwindlig fühlte.
»Entsprechend dem Stand der Dinge könnt Ihr Euer Kleid wieder anziehen.«
Sie zögerte nicht, hob das ramponierte Stück vom Boden auf und schlüpfte hinein, stieß die Arme in die Puffärmel und bedeckte dann notdürftig ihre Schultern, wobei sie innerlich einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, als sie wieder etwas anhatte.
Der Graf sagte nichts mehr, und Ariel fasste sein Schwei-gen als Entlassung auf. Sie kümmerte sich nicht um die fehlenden Knöpfe, den klaffenden Riss und auch nicht um die Tatsache, dass ihr Haar zerzaust war; falls einige der Diener sie so sehen würden, würden sie sich trotzdem nichts anmerken lassen. Vom ersten Tag ihres Aufenthalts hier hatte sie bemerkt, wie ernst und geschäftig alle waren. Nur wenig Lachen hörte man unter diesem Dach. Da sie nun den kaltherzigen Arbeitgeber der Leute kennen gelernt hatte, begriff sie endlich den Grund dafür.
Sie bemühte sich, die einzelnen Teile festzuhalten, dann floh sie eilig hinaus. Kurz vor ihrem eigenen Zimmer rannte sie förmlich. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, drehte sie den Schlüssel im Schloss und lehnte sich dagegen. Für den Augenblick war sie in Sicherheit. Aber wie lange würde diese Sicherheit dauern?
Wenn sie doch eine Antwort wüsste auf ihre Frage; sie wünschte sich einen Ausweg aus dieser Situation, in die sie sich selber gebracht hatte. Freilich waren ihre Möglichkeiten begrenzt. Sie hatte kein Geld, keine Arbeit und keinen Zufluchtsort.
Obendrein hatte sie ihr Wort gegeben.
Ariel presste die Augen zusammen und bemühte sich, nicht schon wieder zu weinen.
5
Ich bin ganz aufgeregt, hier in Mrs. Penworthys Institut für höhere Töchter zu sein; diese Schule zu beenden ist der nächste Schritt zur Erfüllung meines Traumes, eine Lady zu werden. Dennoch mache ich mir Sorgen, dass ich niemals wirklich in diese Rolle hineinwachse. Die anderen
Mädchen sind alle so kultiviert und selbstsicher, während ich ständig Gefahr laufe, etwas Falsches zu tun oder zu sagen. Ich habe gehört, wie sie sich hinter meinem Rücken lustig machen über mich; aber meistens ignorieren sie mich einfach. In gewisser Weise bin ich dankbar dafür. Denn wenn das Geheimnis meiner niedrigen Geburt durchsickert, werde ich komplett geächtet!
Langsam verblasste die Erinnerung an diesen Brief wieder. Justin lief ruhelos vor dem heruntergebrannten Feuer in seinem Schlafzimmer hin und her. Obwohl es aufgehört hatte zu regnen und der Sturm weitergezogen war, herrschte dennoch eine unsommerliche Kühle; von den Blättern der Bäume tropfte noch immer die Feuchtigkeit auf den lehmigen Boden.
Seine Müdigkeit, ja, Erschöpfung heute Abend, hatte weniger mit seiner langen Reise nach Hause zu tun als vielmehr mit Desillusionierung und
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