Ein verführerischer Schuft
Seine dunklen Wimpern lagen wie ein Fächer über seinen Wangenknochen. Im Schlaf behielten seine Züge ihre Schärfe und Strenge. Im Geiste hörte sie seine Stimme, mit der er ihr beinahe ausdruckslos vorgetragen hatte, was er in den letzten zehn Jahren getan hatte, wie sein Leben ausgesehen hatte - wo und womit er es verbracht hatte. Er hatte die Gefahr, in der er sich ständig befunden haben musste, nicht näher ausgeführt. Aber sie war nicht so naiv, dass sie nicht zwischen den Zeilen lesen konnte. Wenn er seine Maske ablegte - so wie jetzt im Schlaf -, dann waren die Spuren dieser zehn Jahre zu sehen.
Letzte Nacht - oder besser heute ganz früh hatte er sie gebraucht. Nach ihr verlangt. Er hatte alles genommen, was sie ihm gegeben hatte, und noch mehr gebraucht, was sie ihm auch hatte geben können.
Seine Zufriedenheit war ihre, tief, durchdringend und vollständig. Sie hatte sich nie vorstellen können, dass es eine solche Verbundenheit geben könnte, dass ein Mann wie er ein solches Verlangen empfinden konnte und sie es so vollkommen zu stillen vermochte.
Ihre Freude über diese Entdeckung kannte keine Grenzen.
Sie hob eine Hand, strich ihm sanft eine Locke seines schwarzen Haares aus der Stirn. Er wachte nicht auf, regte sich aber. Seine Hand zuckte, fasste sie fester, ehe er seinen Griff wieder lockerte, beruhigt weiterschlief.
Einen langen Augenblick schaute sie ihn an, stellte sich die Frage.
Und fand sich mit der unveränderlichen Wahrheit ab.
Er bedeutete ihr nun mehr, war ihr wichtiger als alles andere in ihrem Leben.
Tony verließ das Haus in der Waverton Street, bevor die ersten Sonnenstrahlen auf das Pflaster fielen. Die tiefgreifende Befriedigung der letzten Nacht ebbte allmählich ab, zeigte ihm in unangenehmer Deutlichkeit, wie verletzlich er darunter war.
Er konnte sie nicht verlieren - das war schlicht undenkbar; er ertrug ja noch nicht einmal die Vorstellung, dass sie in Gefahr schwebte. Daher …
Beim Frühstück, das wie immer aufmerksam, aber unaufdringlich von Hungerford serviert wurde, machte er Pläne. Der Butler wusste selbstverständlich sehr genau, dass Tony auch die vergangene Nacht nicht in seinem Bett geschlafen hatte - wie alle Nächte der vergangenen Woche und mehr -, aber er machte dabei einen auffallend erfreuten Eindruck. Tonys Pläne betrafen auch Hungerford, doch sein erster Weg führte ihn nach dem Frühstück in sein Arbeitszimmer, wo er zwei Nachrichten verfasste. Die erste war an Geoffrey Manningham gerichtet; sie zu schreiben dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Er schickte einen Lakaien damit los, dann machte er sich an den zweiten Brief. Dieses Schriftstück erforderte mehr Sorgfalt und Nachdenken bei der Formulierung.
Er war immer noch damit beschäftigt, die richtigen Worte zu finden, als Geoffrey eintraf. Er winkte seinen Besucher zu den beiden Lehnstühlen vor dem Kamin und ging zu ihm.
Nachdem Geoffrey Platz genommen hatte, fragte er:
»Neuigkeiten?«
»Nein.« Während er sich auf den anderen Stuhl sinken ließ, lächelte Tony breit.
»Pläne.«
Geoffrey grinste ebenfalls.
»Ich bin ganz Ohr.«
Tony umriss die Grundlagen dessen, was ihm vorschwebte.
Geoffrey stimmte ihm zu.
»Wenn du alles sauber hinbekommst, deine Herzensdame eingeschlossen, wäre das zweifellos das Klügste.« Er sah Tony ins Gesicht.
»Und was soll ich dabei tun? Ich nehme an, dass es etwas gibt.«
»Ich möchte, dass du Adriana für den Nachmittag - oder auch den ganzen Tag, je nachdem, was dir lieber ist, aus dem Weg schaffst.«
Geoffrey blickte ihn erstaunt an.
»Das ist alles?«
Tony nickte.
»Bring das zuwege, dann übernehme ich den Rest.«
Wie genau er das bewerkstelligen wollte … Sie saßen eine Weile da und diskutierten verschiedene Möglichkeiten, dann entfernte sich Geoffrey, um seine Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Tony blieb ein paar Minuten länger vor dem Feuer sitzen, dann kam ihm die rettende Idee, und er ging zum Schreibtisch und schrieb den zweiten Brief zu Ende, der an seine Cousine Miranda gerichtet war. Darin lud er sie und ihre beiden Töchter Margaret und Constance ein, ihn in London zu besuchen, um als Anstandsdame für die Dame zu fungieren, die er zu heiraten beabsichtigte und die etwa eine Woche in seinem Hause wohnen würde.
Wenn er Miranda auch nur ein wenig kannte, würde das dafür sorgen, dass sie, so schnell er es sich nur wünschen konnte, hier erscheinen würde - vermutlich gleich morgen.
Der Brief wurde einem
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