Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
der Durst ihres Körpers gestillt. Entspannt ließ sie sich in die Wellen gleiten und spürte, wie ihr Körper immer schwereloser wurde. Sie wusste, dass sie nicht weit zu schwimmen brauchte, um die erstaunlichen Felsformationen, die Korallen, Schwämme und die andere Flora und Fauna zu finden. Daher fühlte sie sich sicher. Man konnte durchaus ohne Boot tauchen und auch ohne Partner, solange man nur gut aufpasste.
Sie wusste genau, wohin sie wollte. Nicht weit entfernt befanden sich die Felsen, il faraglione , rostrot und cremefarben, an deren zerklüfteter Oberfläche Moos, Erde und Algen klebten.
Sie tauchte. Nach dem Sturm war das Wasser immer noch leicht trübe. Der Meeresboden war aufgewühlt worden und hatte sich nach der Erschütterung noch nicht wieder ganz beruhigt. Angesichts dessen fühlte sie sich an ihre eigene Gemütsverfassung erinnert. Sie versuchte immer noch, sich abzuregen, diesen Punkt zu erreichen, an dem sie ganz ruhig war, und den richtigen Rhythmus zu finden, ihren Rhythmus, der auch der Puls der Gezeiten war.
Als sie die Felsen erreichte, kamen sie ihr zunächst unverändert vor, aber sie sah mehr Fische als sonst, vielleicht wegen des Sturms. Sie sah Salpen, Brassen und Papageienfische und noch ein paar, die sie nicht erkannte und später nachschlagen wollte. Mit ihrer behandschuhten Hand zog sie einen Riss nach, der frisch aussah, als sei er eben erst entstanden, als sei der Fels erst kürzlich erschüttert worden.
Etwas war anders, als hätten sich ein paar der Felsen bewegt oder seien verschoben worden. Und da war ein Loch, eine Lücke, wo vorher …
Tess sah sich die Felsen genauer an. Wo sich zuvor nur Felsen und Steinbrocken aufgetürmt hatten, klaffte jetzt eine Öffnung. Sie schaute genauer hin. Es war mehr als eine Öffnung, es war ein Loch, ein Eingang, der breit genug war, dass ein Mensch hindurchpasste. Breit genug für sie.
Sie schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Strahl durch die Öffnung wandern. Auf der anderen Seite schien ein größerer Raum zu liegen, und das Wasser dort hatte eine andere Farbe: einen hellen Türkiston. Es sah aus, als würde es von mehr als nur vom Strahl ihrer Taschenlampe erhellt.
Wo sie nun schon einmal Entdeckerin war, brauchte sie nicht mehr lange darüber nachzudenken. Vorsichtig schob sie sich durch die Lücke und fand sich in einem natürlichen Felstunnel wieder.
O mein Gott, dachte sie. Dieser Tunnel war vorher nicht da gewesen. Nein, diese Öffnung wäre ihr nicht entgangen; daran wäre sie nicht vorbeigeschwommen. Sie bemerkte, dass ein schmaler Lichtstrahl einfiel und das Wasser deswegen türkis wirkte. Als sie sich vorsichtig voranschob, wurde der Felstunnel breiter. Ein paar Garnelen und kleine Seegraspartikel trieben an ihr vorbei. Und kurz darauf brach sie durch die Wasseroberfläche.
Sie befand sich in einer Höhle, einer unterseeischen Höhle. Herrgott! Es war ziemlich dunkel, aber der schmale Lichtkegel beleuchtete das Wasser. Wahrscheinlich Es musste einen engen Kamin geben, der Sonnenlicht von oben einließ. Er war vermutlich zu eng, als dass man von der Oberfläche aus in die Höhle gelangen konnte. Der einzige Weg hinein war der, auf dem sie gekommen war.
Tess nahm das Ventil aus dem Mund, denn hier gab es ja Luft. Sie war zwar ein wenig abgestanden, aber trotzdem. Sie nahm auch die Maske ab, damit sie besser sehen konnte.
Die Höhle war tief, und der Fels bildete auf verschiedenen Ebenen Simse, die bis zur Höhlendecke hinaufführten. An der dunklen Farbe des Felsens konnte sie den Wasserstand erkennen und sah, dass der obere Teil der Höhle auch bei Flut trocken bleiben würde.
Langsam schwamm sie durch den See. Sie hörte ein beständiges Tropfen, und jedes Plätschern, das ihre Schwimmzüge erzeugten, schien von den Steinwänden zurückgeworfen zu werden. Es war unheimlich, furchteinflößend.
Auf der anderen Seite des Sees machte sie eine Pause. Wieso hatte sie das hier nicht früher entdeckt? Ganz einfach: der Erdstoß am Tag des Sturms, der das Kopfsteinpflaster des baglio erschüttert hatte, als sie dort mit Tonino stand. Sie hatte den Eingang zur Höhle bei ihrem letzten Tauchgang deshalb nicht gesehen, weil er noch nicht da gewesen war. Die Höhle hatte es schon gegeben, aber es war noch keine Öffnung da gewesen, durch die sie hätte schwimmen können. Die Höhle hatte keinen Zugang gehabt. Die Öffnung war erst durch das Erdbeben vor zwei Tagen entstanden. Ein Riss im Fels war auseinandergetrieben
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