Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
überall parkten Autos, und schmale Steintreppen führten auf die jeweils darunterliegende Ebene und manchmal auch auf eine Piazza oder erlaubten einen kurzen Blick auf das Meer. Es war ein Labyrinth.
Sie parkte in einer Seitenstraße, stieg aus und reckte sich. Es war warm, sie hatte Lust auf einen Spaziergang, und zu Fuß würde es ihr leichterfallen, das Haus zu finden, das sie suchte. Das Dorf war klein, und man hatte ihr gesagt, dass sie den Schlüssel bei einer Signora Santina Sciarra abholen könnte, die in der Via Dogali 15 wohnte und eine Freundin der Familie war. Welcher Familie, fragte sie sich. Ihrer? Hatte diese Frau ihre Mutter gekannt?
»Ist die Villa sehr baufällig?«, hatte sie den Anwalt, der Edward Westermans Erbe verwaltete, am Telefon gefragt, bevor sie abgereist war. Sie war entschlossen, praktisch zu denken. Was zusammen mit Robin ein Abenteuer verheißen hatte, konnte sich als gewaltige Aufgabe erweisen, wenn man allein davorstand.
»Nein, nein«, hatte er ihr jedoch versichert. »Das ist sie nicht. Sie ist nur ein bisschen alt und müde und könnte etwas liebevolle Zuwendung gebrauchen. Aber könnten wir das nicht alle?«
Wahrscheinlich … Mit »alt und müde« konnte Tess fertig werden, aber nicht mit abblätternden Decken und undichten Wasserleitungen. Sie versuchte, stark zu sein. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie in ihrer Beziehung zu Robin an einem Abgrund angekommen war, und sie war sich nicht sicher, ob sie springen sollte.
Sie ließ ihr Gepäck im Wagen und ging bis zur nächsten Ecke. Es gab kein Zeichen von Leben in den schmalen Straßen, aber sie roch Tomaten, Kräuter und bratendes Fleisch. Überall wurde Abendessen gekocht, und die Düfte zogen durch offene Fenster und trieben von Balkonen und Terrassen herab.
In der nächsten Straße sah sie eine alte, gebückte Frau in Schwarz, die ihre Türschwelle fegte.
» Scusi «, sprach Tess sie an. War das richtig?
Die Frau blickte aus schwarzen, unergründlichen Augen zu ihr hoch und gab keine Antwort.
»Ähem …« Sie war mit ihrem Italienisch bereits am Ende. Und außerdem war, wie Muma behauptete, Sizilianisch eine vollkommen andere Sprache, und Flavia hatte sich entschieden, sie Tess nicht zu lehren. Ihre Mutter hatte sie nicht zweisprachig erzogen, und so hatte sie sich nie mit Muma in deren Muttersprache unterhalten können. Gelegentlich ein Fluch – mehr Italienisch hatte sie nie von ihr gehört. » Via Dogali? « Sie zeigte der Frau den Zettel, auf dem sie die Adresse notiert hatte.
Die Frau entriss ihn ihr mit knorrigen braunen Fingern, las ihn und schnalzte mit der Zunge. Obwohl es ein warmer Abend war, hatte sie sich ein dickes schwarzes Tuch fest um den Kopf gebunden. Sie ließ einen Wortschwall auf Sizilianisch los, in dem Tess den Namen Santina zu verstehen glaubte.
»Ja«, sagte Tess. »Santina. Si .«
Die Frau legte Tess eine knochige Hand auf den Arm und drückte zu. Fest. Sie musterte sie von oben bis unten und sprach sehr schnell. Wollte sie wissen, wer Tess war? Sie glaubte schon.
»Ich bin Flavias Tochter«, erklärte sie langsam und deutlich. »Flavia. Figlia .« War das richtig?
Noch ein Wortschwall. Dann drehte sich die Frau um und winkte ihr. » Si, si «, murmelte sie. »Kommen, kommen.«
Rasch humpelte sie die schmale Straße entlang, wobei ihre schweren schwarzen Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster polterten. Tess eilte ihr nach. Wie alt mochte diese Frau wohl sein? Siebzig, achtzig, hundert? Unmöglich zu sagen. Sie ging tief gebeugt, und ihre dunkle Haut war faltig und von der Sonne gegerbt.
Es konnte nicht weit zu Santina sein; dazu war der Ort zu klein. Hier war ihre Mutter also aufgewachsen. Tess spürte Aufregung in sich aufsteigen. War ihre Mutter dieselben Straßen entlanggegangen, hatte sie die gleichen Düfte gerochen? Es waren köstliche Küchendüfte, ja, aber sie waren vermischt mit einem anderen, zweifelhafteren Geruch: abgestandenes Abwasser vielleicht oder verfaulende Lebensmittel. Es roch jedenfalls faulig. Die Schwellen der Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren sauber, aber die Wände waren dreckig. Die Farbe der Häuser blätterte ab und enthüllte das Mauerwerk der Häuser, ihren steinernen Kern. War es damals auch so gewesen? Hatte Muma das alles auch so gesehen und erlebt?
In dieser Stadt kannte wahrscheinlich jeder jeden, und jeder wusste alles über jeden. Diese Frau hatte zweifellos ihr ganzes Leben hier verbracht. Bestimmt wusste sie alles, was Tess
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