Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
gesucht. War die letzte Haushälterin so unordentlich gewesen?
Auf dem Tisch hatten ein Brotkorb und Wein gestanden. Sie hatte angenommen, das sei ein Willkommensgeschenk für sie, aber wie sich herausstellte, hatte Santina beides als Gabe an die Geister des Hauses hinterlassen. Auch gut. Giovanni hatte ihr das später erklärt, als er ihren Wagen durch das große schmiedeeiserne Tor, das den Haupteingang der Villa bildete, vor das Haus gefahren hatte. »Meine Tante besteht darauf«, hatte er gesagt, »deswegen muss es so gemacht werden.«
Na gut … Tess hatte allerdings den Eindruck gewonnen, dass in diesem Haushalt Giovanni das Sagen hatte.
»Sie haben Strom«, hatte Giovanni weiter erklärt, »und es gibt einen elektrischen Boiler.« Er zeigte ihr das Gerät sowie den Sicherungskasten und wünschte ihr eine gute Nacht.
Doch heute Morgen fand sie auch Kaffee, frische Brötchen, Obst und Marmelade vor. Jemand – Giovanni? Santina? – kümmerte sich um sie, nicht nur um die Geister des Hauses.
Sie frühstückte auf der Sonnenterrasse über der Bucht, auf der ein verwitterter schmiedeeiserner Tisch und vier Stühle standen. Zwei davon waren kaputt. Von hier aus konnte sie den baglio sehen. Sie erkannte, dass dort ein paar Menschen unterwegs waren, und stellte fasziniert fest, dass die Ateliertür des Mosaikbauers weit offen stand. Wahrscheinlich war der Künstler drinnen bei der Arbeit.
Es gab so viel zu erkunden … Sie stand auf, die Kaffeetasse noch in der Hand, und wanderte durch den heruntergekommenen, terrassenförmig angelegten Garten, der größtenteils aus Stein bestand und mit dicken Büscheln von wilden Geranien, knallig pinker Bougainvillea und lila Jasmin überwachsen war. Die Pflanzen quollen aus großen Tontöpfen und kletterten ungebremst über Mauern und Treppenstufen. In der Mitte des Gartens befanden sich ein kleiner Teich mit einem nicht funktionierenden Springbrunnen und ein Mosaik aus grauen und schwarzen Kieselsteinen, die verschlungene Muster bildeten. Es war wunderschön. Sie warf einen Blick zurück zu der prächtigen Villa. Wie hatte ihre Mutter sie nur verlassen können? Sie hatte allerdings nicht hier gelebt. Jedenfalls nicht wirklich.
Der Gedanke bewog Tess, bis ans Ende des terrassierten Gartens zu gehen, wo sie dahinter in der Ferne gelbe Felder und verbrannte rote Erde erkennen konnte und auf der anderen Seite der Mauer das, was von einem kleinen Steinhaus übrig war, wenig mehr als Ruinen. War das das Haus, in dem ihre Mutter aufgewachsen war? Es war so klein … Aber wahrscheinlich waren damals alle Menschen arm gewesen, jedenfalls alle außer den Edward Westermans dieser Welt.
Sie entdeckte ein kaputtes Tor und trat hindurch. Der Weg war zugewuchert, und von dem Häuschen war nur noch ein Haufen Steine übrig. Trotzdem stand sie einen Moment lang da und dachte an ihre Mutter, ihre Großeltern, die sie nie kennengelernt hatte, und ihre Tante Maria, die sie vor vielen Jahren einmal besucht hatte, sich aber ihrer Nichte gegenüber so distanziert verhalten hatte, als wäre Tess ein fremdartiges Wesen von einem anderen Planeten. So musste sie ihr wohl auch vorgekommen sein.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging auf demselben Weg zurück zur Villa. In dem L-förmigen Wohnraum herrschte ebenfalls Unordnung. An dem gemauerten Kamin stand noch ein Korb mit Feuerholz, aber ein paar Scheite lagen über die Terrakotta-Fliesen der Feuerstelle verstreut. Das Zimmer war mit einem großen ramponierten Ledersofa, zwei Sesseln und einem halbvollen Bücherregal ausgestattet. Weitere verstaubte Bände stapelten sich auf dem Schreibtisch neben dem Regal. Im unteren Geschoss gab es ein Esszimmer, das aussah, als wäre dort seit Jahrzehnten keine Mahlzeit mehr eingenommen worden.
Wieder hielt sie sich an der eisernen Balustrade fest und stieg die geschwungene Treppe hinauf, die der Biegung der Wände folgte. Auf einem Absatz blieb sie stehen, um durch die runde Fensterluke hinauszuspähen. Es gab nur ein Badezimmer, aber das war mit Badewanne, Dusche, Bidet und Waschbecken erstaunlich modern eingerichtet. Sie ging noch einmal durch die fünf Zimmer im ersten Stock, die sich in verschiedenen Stadien von Unordnung und Verfall befanden. Die Elektrik sah nicht gerade vertrauenerweckend aus – Drähte ragten aus Anschlussdosen und Lampenfassungen –, der Hahn über dem Küchenspülbecken tropfte, lose Fensterläden klapperten im Wind, und an den Decken und Wänden entdeckte sie jede Menge
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