Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
kann.«
»Etwas?«
Er schüttelte den Kopf, als hätte er zu viel gesagt, aber Tess vermutete, dass er auf den Busch klopfen wollte, herausfinden, wie viel sie wusste. Geheimnisse, lauter Geheimnisse. Sie fragte sich, was es damit auf sich hatte.
Giovanni sah sich argwöhnisch im Restaurant um. »In Sizilien hört immer jemand zu«, sagte er.
Aha … Und Tess hatte die Leute ringsum nur für gewöhnliche Paare und Familien gehalten, die in einem netten Restaurant zu Mittag aßen.
Ihre Gedanken schweiften zu Ginny ab. Tess hatte angerufen, bevor sie zum Essen gegangen waren, aber Ginny hatte es offensichtlich eilig gehabt, wieder aufzulegen. »Mir geht’s gut, Mum, ehrlich«, hatte sie gesagt. »Mach dich mal locker. Du bist doch erst einen Tag weg.« Aber es war das erste Mal, dass Tess so weit von ihrer Tochter entfernt war. Und es fühlte sich merkwürdig an.
»Was den Engländer angeht, Edward Westerman«, sagte Giovanni gerade. »Er hat nicht nur die Sonne gesucht.«
»Ach?« Tess nahm die letzten Spaghetti und Muscheln auf die Gabel.
»Er musste England verlassen.« Er machte eine Handbewegung. »Er war, Sie wissen schon …«
Nein, eigentlich nicht. »Was?«
»Er hat Partys gegeben.« Giovanni zog eine Augenbraue hoch. »Eine gewisse Art von Partys.«
Tess war verwirrt. »Er war Dichter, oder?« Sie schob ihren Teller beiseite.
»Aber ja. Er hat sich mit Künstlern und Schriftstellern umgeben, Menschen, die tolerant waren. Die nichts gegen … Verstehen Sie?« Wieder eine hochgezogene Augenbraue.
Tess begriff. »Er war schwul?«, fragte sie. »Homosexuell?«
»Genau.« Auch Giovanni war mit seiner Pasta fertig und tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. Seine Miene verriet, dass er vielleicht nicht extrem homophob war, aber solche Neigungen ganz bestimmt nicht billigte. »In England war das illegal, no? Bei Ihnen gab es doch diesen Oscar Wilde, glaube ich.«
Tess lachte. »Ja, so ist es.« Sie nippte an ihrem Wein, einem köstlichen, leicht nach Honig schmeckenden Tropfen aus Sizilien.
»Er ist sincero «, erklärte ihr Giovanni, »ehrlich, rein aus Trauben, ohne Chemikalien, und macht deshalb keinen Kater.«
»Großartig.« Tess ließ sich nachschenken. »Aber war Homosexualität denn nicht auch in Sizilien verboten?«, fragte sie.
»Ah.« Giovanni legte seine Gabel schwungvoller als nötig auf den Teller zurück. Tomatensauce spritzte an die ockerfarben getüpfelte Wand. »Das sollte man meinen. Ich würde das meinen und viele andere auch …« Er seufzte. »Auf Sizilien haben wir immer die Augen vor den exzentrischen Angewohnheiten der Engländer verschlossen.« Er schloss die Augen, als wolle er es demonstrieren. Aber sie bemerkte, dass seine Miene immer noch missbilligend wirkte.
Exzentrisch, dachte Tess, vom lateinischen ex centro , außerhalb des Zentrums. Etwas, was sich den zentralisierenden, alle gleich machenden Kräften widersetzte. Es war nicht leicht, exzentrisch zu sein, überlegte sie. Dazu brauchte es Mut. Wahrscheinlich hätte sie Edward Westerman gemocht.
»Sie hatten Geld, sie haben eine große casa gebaut, sie haben unseren Männern und Frauen Arbeit gegeben. Warum sich darum scheren, was sie nachts in ihren Schlafzimmern tun? Oder anderswo?«
Tess blinzelte. Überzeugt klang er immer noch nicht. Aber sie war froh darüber, dass ihre eigene Familie da aufgeschlossener gewesen war. Offensichtlich hatte zwischen Edward Westerman und der Familie ihrer Mutter eine Verbindung bestanden, die weit über die Loyalität zwischen Arbeitgeber und Angestellten hinausging. Und er hatte Tess seine wunderschöne Villa vermacht …
Draußen schien die Sonne immer noch auf die Terrasse, die an der Promenade lag, und sie fragte sich, warum die Italiener so oft drinnen aßen. Wahrscheinlich war es hier so lange so heiß, dass sie die Kühle vorzogen, wann immer sich die Gelegenheit bot.
Ein Pärchen schlenderte Hand in Hand über die Promenade. Die beiden schienen sich ohne Worte zu verstehen. Sie blieben stehen, beobachteten die Boote, die im Hafen ankerten, und schauten aufs Meer hinaus. Er sagte etwas und zeigte zum Horizont. Sie sah hin, beschattete die Augen, nickte, lachte. Die beiden küssten sich. Tess wandte den Blick ab. Es war zu früh, ihre Wunde war noch zu frisch.
Giovanni trank einen großen Schluck von seinem Wein. »Sizilien war damals sehr arm«, erklärte er. »Es gab viel Hunger, viel Unzufriedenheit.«
Tess nickte. Das konnte sie nachvollziehen. Sie
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