Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
auf dem Bett ihrer Mutter ausgebreitet, denn das Zimmer war bestens geeignet, um hier die zerbrechlichen Gegenstände zwischenzulagern, die Ginny im Wohnzimmer im Erdgeschoss – der Tanzfläche – einsammelte. Zuerst die gerahmten Familienfotos, Schnappschüsse aus der Vergangenheit, die auf dem Sekretär ihrer Mutter standen. Sie raffte sie zusammen, lief die Treppe hinauf und legte sie auf das Strandtuch. Sie ließ sich ablenken und nahm eines zur Hand, das sie im Alter von fünf Jahren beim Ponyreiten zeigte. Ihr Haar wehte im Wind, und ihre Miene war in einem Moment eingefroren, in dem sie Angst und Freude zugleich empfunden hatte. Ginny konnte sich an diesen Tag genau erinnern. Sie war in der Lage, sich innerhalb von Sekunden in die Vergangenheit zu versetzen. Wieder roch sie diesen süßen Duft nach Pferden und Heu, hörte das Tier wiehern und schnauben, spürte die scharfe Meeresbrise im Gesicht und die Furcht, die in ihrem Bauch blubberte, als das Pony in einen langsamen Trab fiel. Und sie sah ihre Mutter, wie sie strahlte und triumphierend mit der Kamera wedelte. »Hey, Ginny! Das machst du großartig!«
Bei der Erinnerung lächelte Ginny. Als sie abgestiegen war, hatte sie nur daran denken können, gleich wieder auf das Pony zu klettern.
Sie nahm ein anderes Bild in die Hand. Eine Geburtstagsfeier. Nonna hatte den Kuchen gebacken, natürlich. Sie stand neben ihrer Enkelin, und Pops hatte auf Ginnys anderer Seite Stellung bezogen. Vor ihnen auf dem Tisch stand der Kuchen mit zehn brennenden Kerzen.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Ginny.« Die Stimme ihrer Mutter, die vor Rührung leicht bebte. »Sag cheese! Bitte lächeln!«
Mum war immer hinter der Kamera und nur selten das Motiv. Doch es gab eine Ausnahme. Das dritte Foto, das Ginny in die Hand nahm, zeigte ihre Eltern. Ihre Mutter und ihren Vater. Schon das Wort »Vater« zu denken war komisch, denn ein Vater war er nicht, oder? Man konnte kein Vater sein, wenn man nie da gewesen war.
Ihre Mutter war wunderschön auf diesem Schnappschuss. Groß und schlank mit langem, lockigem dunkelblonden Haar und einem bezaubernden Lächeln. Ginny zog es mit der Fingerspitze nach. Wahrscheinlich war sie auch heute noch attraktiv. Männer sahen sie immer noch an, sie fiel immer noch auf und hatte tolle Beine. Aber damals … Die beiden hielten Händchen, und ihre Mutter lehnte sich an ihren Vater und sah ihn mit einem Blick an, der sagte: Du bist zwar ein hoffnungsloser Fall, aber ich liebe dich .
Er lachte. Er war groß, schlaksig und sorglos, noch ein Junge. Ihr biologischer Vater. Dieser Ausdruck hatte das richtige Maß an Distanz. Auch er hatte seinen Abstand gewahrt. Er hatte sich nie bei ihnen gemeldet, nicht ein einziges Mal.
Sie schaute sich im Zimmer ihrer Mutter um. Da waren ein kleiner, nie benutzter schwarzer viktorianischer Kamin und ein Messing-Doppelbett. Aber beherrscht wurde der Raum von einem Unterwasserfoto. Es war irgendwo im Roten Meer aufgenommen worden, meinte Ginny sich zu erinnern. Sie trat näher heran. Es hieß Eine andere Welt unter Wasser . Und sie musste zugeben, dass das Bild etwas hatte. Zwei Taucher schwammen auf ein mit Seepocken bewachsenes Wrack zu, das in einem merkwürdigen Winkel aus einem Bett aus rosa Korallen ragte. Das Meer war von einem schimmernden Aquamarin, und ein Strahl indirekten Sonnenlichts erhellte die Szene. Hinter den Tauchern schwamm, anscheinend gleichgültig gegenüber den Eindringlingen, ein Schwarm fluoreszierender gelber Fische. Ginny wusste, das war die Welt ihrer Mutter, der Ort, an dem sie am liebsten sein würde, lieber als in diesem Haus bei Ginny oder bei der Arbeit im Wasserwerk, wo sie Leuten zuhörte, die sich über Rechnungen oder Abwasserprobleme beschwerten.
Wenn Mum wüsste, was heute Abend hier abging, würde sie ausflippen … Ginny spürte, wie die Kugel vibrierte. Es war, als ob sie ihr schlechtes Gewissen aufsaugen würde. Mum hatte schon aus Sizilien angerufen und zwei SMS geschickt, »nur um zu hören, ob du okay bist«. Was hatte sie bloß? Tatsache war, dass ihre Mutter nichts über sie wusste, nichts über ihr Leben. Warum sollte sie auch? Sie war ihre Mutter , oder?
Ginny verließ das Zimmer ihrer Mutter und ging in ihr eigenes Zimmer nebenan, um sich ihren iPod zu holen. Das würde sie ablenken. Henrietta . Die Fratellis in voller Lautstärke. Ihre Mutter würde nie von der Aktion erfahren, rief sie sich ins Gedächtnis.
Sobald sie alles Zerbrechliche aus
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