Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
weil ich mich mit ganzer Kraft in die Umgestaltungen gestürzt habe? Habe ich womöglich Angst, Joel, den ich wirklich sehr mag, könnte mir wehtun, und deshalb fühle ich mich plötzlich zu jemand anderem hingezogen, jemandem, bei dem ich mich sicher fühle, den ich kenne; einem Freund?
O Gott , ich bin völlig verwirrt.
Lola schiebt ihre in Fäustlingen steckende Hand in meine und schaut lächelnd zu mir hoch.
»Wassn los, Tante Tivie?«, fragt sie und trottet neben mir her. »Du siehst so traurig aus.«
Gerührt hieve ich sie hoch, nehme sie in die Arme und küsse sie auf die kalten roten Wangen. »Ich bin nicht traurig, Lola, ich denke nur nach.«
»Hmm«, sagt sie und tippt sich mit dem Finger an die Lippen. »Das kann ich auch.«
Damit bringt sie mich zum Lachen, und ich drücke sie fest an mich und bin plötzlich schrecklich dankbar, dass ich es heute geschafft habe, früh genug Feierabend zu machen, um sie vom Hort abzuholen. In der letzten Woche haben sie mir richtig gefehlt, und ich will heute ein wenig wiedergutmachen, dass ich in letzter Zeit so selten da war. Lola windet sich in meinen Armen wie eine Schlange, also lasse ich sie auf den Boden rutschen und schaue ihr nach, während sie ihrem Bruder hinterherläuft. Die beiden sind sich altersmäßig so nahe, dass sie hoffentlich später,wenn sie groß sind, beste Freunde werden. Die beiden werden einander mehr brauchen, als sie ahnen können.
Ich habe es heute Morgen so genossen, mit den anderen zusammen an der Neugestaltung der Abteilung zu arbeiten, gemeinsam zu lachen und zu reden und schließlich, als uns klar wurde, wie viel es noch zu tun gibt und wie wenig Zeit uns dafür bleibt, in geselliges Schweigen vertieft zu werkeln, dass mir plötzlich aufgegangen ist, wie sehr meine Schwester mir fehlt. In der letzten Woche haben wir uns kaum gesehen. Noch immer trage ich das Wissen um Wills Untreue mit mir herum wie eine schwere Bürde, und ich frage mich, was zum Kuckuck ich jetzt machen soll. Und obwohl ich in den letzten beiden Wochen glücklicher war denn je zuvor in meinem Leben, macht es mich doch traurig mit anzusehen, wie die Menschen, die mir die liebsten sind, langsam auseinanderdriften. Weshalb ich momentan auch einfach den Kopf in den Sand stecke und tue, als sei alles in bester Ordnung, und mich in meine eigene kleine Welt zurückziehe, die mir märchenhaft und aufregend erscheint. Und doch kann ich das Gefühl nicht unterdrücken: Ganz tief drinnen fehlt irgendwas – oder irgendwer.
Es gab mal eine Zeit, da wusste ich alles über meine Schwester, kannte jeden ihrer Gedanken. Ich saß mit ihr zuhause und habe mir angehört, wie sie von ihren Problemen bei der Arbeit berichtete, ihrer Angst, nicht genug Zeit mit den Kindern zu verbringen, dass Will zu viel Stress hat, die Hypothek zu groß ist, Mum und Dad zu weit weg sind, dass sie immer zu müde ist, um sich noch zu amüsieren, dass sie nicht genug Zeit für mich hat. So war das damals.
Aber nun habe ich ihr schon lange nicht mehr zugehört, und mir wird klar, dass ich mich zwar manchmal geärgert habe, weil diese Gespräche etwas einseitig verliefen, es aber trotzdem schön fand, gebraucht zu werden. Ich war gerne für sie da, habe mir ihreProbleme angehört und das Gefühl genossen, dass ich sie trösten konnte wie niemand sonst – nicht mal ihr eigener Mann. Meine große Schwester, mein großes Vorbild, brauchte mich. Immer gelang es mir, ihre Sorgen wegzurationalisieren, bis sie nicht viel mehr waren als eine kleine Bodenwelle auf ihrem Lebensweg. Und dann brachte ich sie zum Lachen. So war das bei uns.
Aber jetzt, seit ich Joel kennengelernt habe und mich mit Leib und Seele in meinen Job stürze und endlich das Gefühl habe, in meinem Leben etwas erreichen zu können, da beschleicht mich die Angst, ich könnte meine Schwester verlieren. Ist das womöglich der Preis dafür? Funktioniert unsere Beziehung nur, solange sie die Rolle der älteren gesetzten Schwester spielt und ich die der kopflosen Kleinen, die noch auf der Suche ist nach dem Sinn des Lebens und ihrem Platz darin? Früher habe ich es ihr übel genommen, dass sie nicht genauso für mich da war wie ich für sie, aber jetzt geht mir auf, dass sie das sehr wohl war. Ich habe es bloß nicht zu schätzen gewusst. Nachdem Jamie mich abserviert hatte, hat sie mich bei sich zuhause aufgenommen und mein ramponiertes Selbstbewusstsein repariert. Ohne sie wäre ich nie nach London gezogen, hätte meinen Job nicht bekommen
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