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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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sagt das Reuter als Biograph –, zehn Jahre später vom Balkon gestürzt haben soll …« Während sich Hoftaller, als habe ihm diese Todesmeldung ein Stichwort geliefert, vom kubanischen Vorrat eine Zigarre anzündete, legte Fonty nur kurz eine Pause ein, um seine Gedanken in gegenläufige Richtung zu bringen: »Naja. Waren ihre Nerven. Hielt sie nicht länger aus, dieses Leben. Habe deshalb kürzlich an meine Mete geschrieben, daß selbst in Schwerin nicht alles von Übel sein könne und sie deshalb, auch wenn ihr Mann auf immer mehr Grundstücke sein Augenmerk werfe, nicht durchdrehen, keine Nervenpleite riskieren dürfe. Nehme an, daß Martha deshalb nicht bei der Einweihung dabeigewesen ist. Weshalb aber Theo nicht kam … Und von Teddy kein Sterbenswörtchen … Aber das war schon immer so …« Fonty, der eigentlich nur für sich sprach und den Zigarrenraucher an seiner Seite kaum oder nur als naturgegebenen Schatten wahrnahm, schien seinen Worten plötzlich zu mißtrauen. Er straffte sich wie auf inneres Kommando: ›jedenfalls begann der Rummel mit Glockengeläut und Regimentskapelle, natürlich unter dem dicken Kapellmeister Heinichen. Seminar- und Gymnasialchor haben ›Lützows wilde, verwegene Jagd‹ und ›Es braust ein Ruf wie Donnerhall‹ gesungen. Aber auch, was meinem Wunsch entsprochen hätte, ein Gerhardt-Lied. Wenn ich mich an meines Vaters Lehrlingsbericht genau erinnere: ›Geh aus, mein Herz, und suche Freud …‹ War schön … Sowas paßt immer … Und nach der obligaten Kranzniederlegung gab es einen regelrechten Vorbeimarsch der ruppinischen Vereine. Selten waren so viele Zylinder beieinander. Die Mädchen reizend in Weiß und unter bändergeschmückten Strohhüten. Auf allem lag Sonne. Natürlich gab’s hinterher eine Denkmalfeier draußen am Rheinsberger Tor. Bis in die Nacht hinein bei stabilem Wetter … Klar doch, mit Tanz … Und keine Polizeistunde …« Hoftaller sah noch immer zum Denkmal hoch. Überm gehobenen Kinn zielte seine Zigarre auf die überlebensgroße Bronze. Der auf steinerner Bank sitzende Dichter blickte über beide Besucher hinweg. »Möchte mal wissen, wo der eigentlich hinguckt?«
»In die Weite, wohin sonst.«
»Glaub ich nicht. Der fixiert irgendwas Bestimmtes.«
»Also gut, Hoftaller, mein Herr Papa hat immer gesagt: Er guckt in Richtung Bahnhof. Und außerdem hat er vermutet, daß das aufgesperrte Buch in seiner linken Hand ein Kursbuch ist, in dem der Dichter gerade nachgeschaut hat, wann er mit nächstbestem Zug von Neuruppin weg …«
»Verstehe. Ab nach Berlin. Wohin sonst?«
Beide lachten. Wir hätten gerne mitgelacht und ihren Besuch beim Denkmal heiter beendet. Das wäre besser für Fonty gewesen, um den wir besorgt waren und den wir liebten, weil er in seiner greisenhaften Schönheit unter uns weilte, während die Bronze auf der Steinbank entrückt saß; er war lebendig, während uns der Unsterbliche nur noch Fußnoten, Querverweise und sekundären Schweiß abforderte.
Aber ihr Besuch durfte nicht heiter mit einer Anekdote enden. Bevor Fonty weitere Erinnerungen seines bei Gustav Kühn in die Lehre gehenden Vaters ausgraben konnte, geschah, was Hoftaller geplant und sich als Krönung der Reise mit dem Trabi nach Neuruppin ausgedacht hatte. Ach, hätte ihm doch ein Platzregen das Konzept versaut. Ach, wäre doch eine Sintflut dazwischengekommen. Aber auf selten des Tagundnachtschattens stand parteiisch die Sonne.
    Die Lücke lud dazu ein. Hoftaller forderte Fonty auf, nein, er befahl ihm, das Denkmal über die märkischen Findlinge hinweg und die Steinstufen hinauf zu ersteigen und, oben angekommen, sich zwischen den sitzenden Dichter und den seitlich abgelegten Bronzehut auf die Steinbank zu setzen, gleich und sofort: »Los, Fonty!«
    »Was soll der Unsinn?«
»Wird’s bald!«
»Denke nicht mal im Traum daran!«
»Aber ich und schon lange.«
»Soll ich mich zum Gespött machen? In meiner
    Geburtsstadt? In der ich zu leiden, schlimmer, in deren Mauern er und ich …«

    »Ach. was! Kein Mensch weit und breit. Nur zum Vergleich ganz kurz rauf, dann wieder runter …« »Will aber nicht!«
    »Muß leider drauf bestehen …«
»Nein!«
»Hören Sie, Fonty: Das ist nun mal der Preis der
    Unsterblichkeit.«
    »Nein nein!« Schon sah es aus, als hätte Fonty sich verweigern dürfen. Hoftaller schien mit seiner Zigarre beschäftigt zu sein: Sie zog wohl nicht richtig. Ach, wäre ihm doch die Kubanische ausgegangen, aber er leckte das Deckblatt kundig –

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