Ein wildes Herz
allererste Wirkung verpufft war, die die beiden Frauen so sehr in Erregung versetzte, als hätte das Kleid selbst ein Geheimnis, das sich erst dann offenbarte, wenn die Zeit gekommen war. Wie ihre Herzen: Denn alle beide waren sie Frauen, die nicht viel von sich preisgaben, die sich nach außen ruhig verhielten, auch wenn es in ihrem Leben stürmisch zuging. Sylvan hatte einen Liebhaber. Und Claudie hatte eine Tochter, die im ersten Stock ihres verwahrlosten Hauses wohnte, für immer und ewig, und nur wenig wurde gesagt und vieles einfach als wahr hingenommen.
Die Matrosen und ihre Mädchen wurden in allerlei Abenteuer verwickelt, es wurde jede Menge geküsst und noch mehr gesungen und getanzt. Doch nach jenem grünen Kleid war nichts mehr davon wichtig. Selbst Frank Sinatra mit seinem jungenhaften Charme oder Gene Kelly mit seinen kräftigen Beinen und der schmissigen Narbe auf der Wange wollte es nicht so recht gelingen, ihre Herzen in Wallung zu versetzen, denn die Aussicht darauf, jenes Kleid für Sylvan zu nähen, stellte alles, aber auch alles in den Schatten.
Sylvan hätte keinen von jenen Männern küssen mögen, auch tanzen wollte sie weder mit ihnen noch für sich allein, und sie wollte auch keine dieser Frauen sein. Sie wollte einfach nur diese knisternde, flirrende Seide auf ihrer Haut spüren, wollte dieses Fließen des Kleides, das für Sekunden ziemlich viel Bein zeigte, wenn sie sich für Charlie Beale im Kreise drehen würde, vielleicht irgendwo draußen im Wald, barfuß auf einem Bett aus Moos, und das Kleid wäre grüner als der ganze Wald ringsum, grüner als selbst das frischeste und winzigste Blättchen am Baum.
Nach dem Kino gingen sie direkt in das einzige Kaufhaus.
Weder hielten sie an, um etwas zu essen, da es auch nur ein einziges Lokal gab, das sie gemeinsam sowieso nicht besuchen konnten, und selbst im Kaufhaus taten sie so, als würden sie sich nicht kennen, und schlenderten einfach nur durch die Gänge der Stoffabteilung, auf der Suche nach der Seide, die sie wollten, und dem Karostoff, durch den das Kleid erst seine besondere Wirkung entfalten würde. Ganz genau das, was sie wollten, fanden sie nicht, doch gaben sie sich durch Blicke und Gesten zu verstehen, welche anderen Materialien auch ihren Zweck erfüllen würden, und dann wählten sie diese, und Claudie stand an der Tür, während das Ladenmädchen den Stoff abschnitt, die beiden Stücke in braunes Papier wickelte und Sylvan mit Geld aus ihrer Handtasche zahlte. Sie gingen auf die Straße hinaus, es war noch heller Tag, und fuhren in dem großen Buick nach Brownsburg zurück, glücklich über ihren Tag und die Gesellschaft, in der sie ihn verbracht hatten, und sie redeten kein Wort, bis Sylvan schließlich, als sie den Stadtrand erreichten, sagte: »Siehst du, Claudie? War es nicht wundervoll? So ist das mit dem Kino.«
21. KAPITEL
D er Junge war immer bei ihnen. Der Junge und der Hund. Allmählich vergaßen sie, dass er da war, vergaßen auch, darauf zu achten, wie sehr sie sich von ihm entfernten oder ob er sie brauchte, und manchmal, wenn sie sich im Freien liebten, dann spürten sie, dass der Junge und der Hund irgendwo im Wald in der Nähe waren, wie sie sie umkreisten, ihre Witterung aufnahmen, ihre Geräusche hörten, aber sie waren so versunken in sich selbst, dass sie sich nicht einmal die Zeit nahmen, darüber nachzudenken.
Sie waren keine schlechten Menschen. Charlie war kein liederlicher Mensch ohne Moral, und Sylvan war auf dem Land aufgewachsen, ganz im Einklang mit der Natur, mit Anstand und einem Begriff von Würde und von dem, was richtig und was falsch ist. Und Charlie liebte den Jungen. Manchmal hielt er sich selbst für dessen Vater. Er wusste, dass es ihm nicht zustand, so zu denken, dass es ein Fehler war, schlecht für ihn, schlecht für den Jungen, dem man in seinem Alter eigentlich nicht hätte zumuten dürfen, eine solch große Last zu tragen.
Und er wusste, dass auch Sam oft, wenn sie zusammen auf den Feldern herumtobten, mit dem Hund spielten oder im Freien schliefen, all die Dinge taten, für die Will schon zu
alt war, dass auch der Junge manchmal vergaß, dass Charlie nicht sein Vater war. Sam vergaß nie, wo sein wirkliches Zuhause war, und wem sein ganzes Herz gehörte. Dafür sorgte die Stimme des Blutes, der ewige und unausweichliche Sog. Doch bei Charlie Beale hatte er das Gefühl, beachtet und behütet zu werden, trotz all der Freiheiten und obwohl er nie gescholten wurde und ihm
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