Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein wildes Herz

Ein wildes Herz

Titel: Ein wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goolrick
Vom Netzwerk:
niemand sagte, er solle gerade sitzen oder die Gabel so halten, wie es laut seiner Mutter wohlerzogene Menschen eben taten.
    Sam wusste immer noch nicht, was Charlie und Sylvan taten, wenn sie ihr Lager teilten, was er manchmal durch ein Fenster oder durch die Äste einer Kiefer hindurch erspähte, aber er wusste, dass es etwas war, das ihn in seinem Herzen und seinem Körper auf eine Weise anrührte, die er sich selbst nicht erklären konnte.
    Sylvan war üppig, wo seine Mutter hager war. Ihre Lippen waren leuchtend rot wie eine Mohnblüte im Sommer, während seine Mutter nur gedeckte Farben trug, mehr die Farben des Winters. Und doch war es Sylvan, die ihn manchmal erschaudern ließ, während seine Mutter ihm Wärme schenkte.
    Während die Wärme seiner Mutter ihn des Nachts verließ, nachdem er seine Gebete gesprochen hatte, das Licht gelöscht war und der Wind in den Bäumen vor seinem Fenster raschelte, pechschwarz, war es Sylvans Kühle , die unter seine Laken kroch und ihn vom Schlaf abhielt.
    Er lag da, in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, und dachte über all die Fragen nach, die er Charlie stellen wollte, Dinge, die er in der Welt beobachtete, Dinge, die ihm sonderbar vorkamen, oder komisch, Worte, die er aufgeschnappt hatte und die allen anderen außer ihm etwas Besonderes zu bedeuten schienen, oder auch einfach nur
Dinge, auf die ein Junge in seinem Alter selbst in einer Million Jahren noch keine Antwort wissen würde; Dinge, für die sein Vater gewiss zu beschäftigt oder zu müde war, um sie ihm zu erklären. Charlie jedoch wurde nie müde, ihm etwas zu erklären. Und er wusste auf alle Fragen eine Antwort.
    Manchmal lagen sie abends draußen am Fluss im Gras, ohne sie, nur Charlie und Sam und Jackie Robinson, und die Fragen fielen ihm wieder ein, und Charlie wusste immer eine Antwort.
    »Beebo?«
    »Was denn, mein Sohn?«
    »Ich hab nachgedacht. Manchmal ist der Mond riesengroß, und manchmal ist er klein. Warum ist das so?«
    Sie sahen zu, wie der Mond über dem Fluss aufging, größer als eine Orange, die man in der Hand hält. Charlie zündete sich eine Zigarette an, während er über die Frage nachdachte, und schaute zum Himmel, als hätte er Sam gar nicht gehört. Charlie konnte mit dem Rauch Ringe blasen, und Sam wusste, wenn er alt genug war, würde er das auch können, ganz genau so, und dass Charlie es ihm beibringen würde.
    »Sam? Bist du jemals auf einer Party gewesen? Auf einer Geburtstagsparty?«
    »Ein Mal.«
    »Und was gab es da alles?«
    »Einen Kuchen.«
    »Was noch?«
    »Geschenke. Und Luftballons.«
    »Dachte ich mir. Nun, der Mond ist wie ein Ballon. Am Anfang ist er ganz klein, und dann bläst ihn jemand auf, und dann wird er richtig groß, und irgendwann platzt er. Deiner ist auch geplatzt, oder?«

    »Ja.«
    »Und dann holt jemand einen anderen Ballon und bläst den auf.«
    »Wer?«
    »Versprichst du mir, dass du es niemandem verrätst?«
    »Versprochen.« Er legte feierlich die Hand auf seine Brust.
    »Ich bin das.«
    Sam lachte nicht gleich, nicht, bis er wusste, dass Charlie ihn auf den Arm nahm. Dann trommelte er auf Charlies Brust, und Charlie drückte seinen Kopf nach unten, zog an seinen Haaren, und sie rollten auf dem Feld herum, das im Zwielicht lag, Stoppeln bohrten sich in ihre Rücken, und Jackie sprang jaulend vor Begeisterung um sie herum und schnappte nach ihren Fersen.
    Sam glaubte, was man ihm sagte. Er war es leid, Dinge nicht zu wissen. Lesen konnte er bereits; er hatte es heimlich gelernt, indem er sich die Wörter auf der Seite merkte, wenn seine Mutter ihm vorlas, und die Comics konnte er fast ganz allein lesen. Er sah keinen Grund, in die Schule zu gehen, wie es für den Herbst vorgesehen war, aber zugleich war er es auch leid, so viele Dinge nicht zu wissen.
    Irgendwann wurden dort im Dunkeln  – während er insgeheim all die Dinge auflistete und sich zu merken versuchte, die er Charlie fragen wollte, wenn sie sich das nächste Mal sahen  –, all die Fragen zu einer einzigen Frage, einer Frage, von der er wusste, dass er sie niemals stellen und niemals eine Antwort darauf bekommen würde. Was machten die beiden, nachdem sie sich ausgezogen hatten? Wieso war es ein Geheimnis? Und wenn er dann wieder bei ihnen war und sie sich wieder angezogen hatten, warum taten sie dann so, als wäre nichts geschehen?
    Das alles gab Sam ein Gefühl des Alleinseins, das er noch
nie zuvor empfunden hatte. Im Grunde hatte er Einsamkeit vorher gar nicht

Weitere Kostenlose Bücher