Eine ehrbare Familie
mehrfach gebrochen.»
«O mein Gott.»
«Er hat etwas sehr Mutiges getan.» Ausnahmsweise waren Giles’ Augen voller Wärme, fast tränenfeucht, stellte Sara erstaunt fest.
Giles war in Gedanken bei Denise, die mit blutunterlaufenen Augen und einem gebrochenen Arm in ihrem Zimmer in Eccleston Square lag. Sogar C hatte sie besucht. Natürlich nachts.
«Vermutlich bekommt er einen Orden», sagte er. Sara wollte jede Einzelheit wissen. Könnte Giles schwören, daß es nichts Ernsthaftes war? Würde Dick am Leben bleiben?
Giles sagte, er würde bald zu Hause sein.
«Sind Sie sicher, daß diese Informationen nicht mißbraucht und auf eine Art weitergegeben werden, die uns schaden kann?» Charles stellte Brenner jedesmal die gleiche Frage und fügte hinzu: «Schwören Sie es mir?»
Und Brenner sagte jedesmal, daß keine Informationen weitergegeben würden, die England schaden könnten.
Charles gab alle gewünschten Einzelheiten. «Ich hätte gedacht, die Deutschen wüßten, daß die Flotte am 2. Juni wieder einsatzbereit ist. Die Schlacht hatte offensichtlich nicht so verheerende Folgen, wie wir zuerst gedacht haben.»
Er ging in seinen Club. Das Wissen, daß seine Tochter sich am heutigen Abend mit einem verdammten Deutschen traf, bereitete ihm Mißbehagen. Otto von Brasser konnte sich jetzt frei bewegen.
Das Paar aß in einem kleinen Restaurant zu Abend. Mary Anne fragte ihn, was er nach dem Krieg zu tun gedächte.
«Ich bin sicher, wir gewinnen - ich meine die Aliierten. Ich bin ein Ehrenengländer geworden.» Er sprach jetzt perfekt Englisch, sogar mit «Oxford-Akzent». «Wenn wir nicht gewinnen, dann werden meine wahren Landsleute mich vermutlich erschießen...»
«Aber wenn wir gewinnen...»
Er schien zu zögern, ihr eine vermutlich unerfreuliche Tatsache mitzuteilen. «Ich bin hier nur geduldet. Mein Land führt Krieg mit Großbritannien. Wenn alles vorbei ist, wird mein Geburtsland Männer brauchen, um beim Wiederaufbau zu helfen. Ich muß zurückkehren und mein Bestes tun.»
Mary Anne fand diesen Entschluß nur gut und richtig.
Sie schwiegen, während der alte Kellner ihnen keinen sehr guten Kaffee brachte. Aber es herrschte nicht nur Mangel an Kaffee in letzter Zeit. Die Lebensmittelknappheit nahm beängstigende Ausmaße an.
«Ich würde gern...» Sie sagten es gleichzeitig.
«Bitte.» Otto bat sie mit einer Handbewegung weiterzusprechen.
«Ich würde gern Ihr Land sehen... Das wollte ich sagen. Nun sind Sie an der Reihe, Otter.»
«Ha! Sie nennen mich noch immer Otter. Das alles scheint so lange herzusein.» Er sah ihr in die Augen und legte seine Hand auf ihren Arm. «Ich wollte das gleiche sagen. Aber ich hätte Ihnen auch gern eine Frage gestellt, nur zur Zeit wäre es falsch.»
Sie half ihm nicht weiter, so daß er gezwungen war fortzufahren. «Ich hoffe, daß Sie mit mir nach Deutschland kommen. Sie wissen, daß ich das möchte. Ich frage Sie jetzt noch nicht, aber eines Tages werde ich Sie bitten, meine Frau zu werden.»
Sie lächelte, als hätte das Glück endgültig Zweifel und Verzagtheit besiegt. «Genau das wünsche ich mir auch, Otter. Aber Sie haben recht. Wir dürfen darüber erst reden, wenn der Krieg gewonnen ist.»
«Und verloren», fügte er hinzu.
(Mary Anne und Otto heirateten nach dem Krieg im Jahr 1920. Sie verließen England, um in Deutschland zu leben. Die Familie nannte es «die Entführung». Aber das ist eine andere Geschichte.)
Der Herbst des Jahres 1916 ging nicht wie üblich unmerkbar in den Winter über. Der Winter kam wie ein Peitschenhieb und war der längste und kälteste seit Menschengedenken. Im folgenden April lag noch Schnee in England. Truppenbewegungen waren unmöglich, die Kämpfe vereisten, die Gewehre froren ein.
Der Lazarettzug, mit dem Dick Farthing nach England zurückkam, brauchte vier Tage für die Reise. Doch Sara, einen Tag zuvor von der Ankunft in Kenntnis gesetzt, fuhr nach London, übernachtete bei Charlotte und ging zum Charing-Cross-Bahnhof, um Dick in Empfang zu nehmen.
Der Zug traf um acht Uhr abends ein. Es war die letzte Woche im November, bitter kalt und regnerisch.
Er stieg mit Hilfe einer Krankenschwester und zwei Stöcken aus dem Zug - sein rechtes Bein lag in Gips. Sara brach fast in Tränen aus, als sie ihn sah. Er schien geschrumpft zu sein und war spindeldürr. Langsam humpelte er den Bahnsteig entlang. Dann sah er sie und strahlte über das ganze Gesicht. Und da wußte sie, daß er bald wieder der alte sein
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