Eine ehrbare Familie
geschrieben, er würde mit einem Freund, dem Sohn des dortigen Arztes namens Savory, nach Farnborough fahren.
Seit dem Tod des Generals hatte Sara die meiste Zeit in Redhill verbracht, und - obwohl sie es nur ungern zugab - genoß sie den Frieden und die ländliche Stille.
Es wäre falsch gewesen zu behaupten, daß sie London mit seinem regen gesellschaftlichen Leben nicht vermißte, aber in der ruhigen und so verschiedenen Atmosphäre von Redhill fing sie allmählich an, ihre frühere hektische Existenz in Frage zu stellen. Sie würde natürlich London nie ganz aufgeben, aber das Herrenhaus hatte sie bereits in seinen Zauberbann gezogen.
Sie verbrachte viele Stunden damit, von Zimmer zu Zimmer zu gehen, fasziniert von der Tradition, die jede Wand auszuströmen schien. Sie liebte die riesige Eingangshalle, die große Freitreppe, die Galerie und die Empfangsräume mit ihren hohen Decken, die Eichenpaneele des Eßzimmers, aber ganz besonders das Arbeitszimmer des Generals. Auch entzückten sie die Ausblicke von fast jedem Zimmer, am meisten die von den oberen Räumen an der Rückfront des Hauses, von wo aus man das grasbedeckte Hügelland sehen konnte.
Von ihrem Schlafzimmer aus, das sie mit John teilte, überblickte sie meilenweit das wellige Gelände, in dessen Mitte eine Gruppe von Büschen stand, die aus der Entfernung wie eine Oase wirkte. Die Familie wie auch das Dienstpersonal nannten diesen Ausblick «Ägypten», denn die Büsche sahen genau wie Palmen aus, die in einer scheinbar endlosen Dünenlandschaft standen.
Das Haus, obwohl in gutem Zustand, hatte noch immer die gleichen Tapeten, Vorhänge und Teppiche wie vor vierzig Jahren. Und während Sara durch die Räume und Korridore wanderte, kreisten ihre Gedanken ständig um Erneuerungen und Verbesserungen.
Es hatte nur wenig geschneit im März, aber der Frost und die Kälte waren noch nicht gewichen, trotzdem ging Sara so oft wie möglich nach Haversage. John hatte ihr geraten, sich möglichst oft in dem Städtchen sehen zu lassen und in den Läden einzukaufen, da die Besitzer es als Kompliment betrachten würden, wenn sie persönlich käme.
Und so war sie öfters mit Ted Natter den Hügel hinab nach Haversage gefahren, meistens im Einspänner, gezogen von einem gutmütigen grauen Pony.
An diesem bestimmten Tag kehrten sie auf dem ihr bereits vertrauten Weg vom Marktplatz die Hill Street entlang nach Redhill zurück. Die Räder knirschten auf dem Kies der Auffahrt, die kahlen Äste der Ulmen zeichneten sich gegen den klaren, kalten Himmel ab, das bleiche goldene Sonnenlicht lag hauchzart auf dem Ziegelbau.
Das Herrenhaus von Redhill war schon seiner Größe wegen imposant. Der älteste Teil, «der Kern des Hauses», wie der General ihn genannt hatte, war fast quadratisch. Er war Anfang des 1 6. Jahrhunderts gebaut worden und unverändert geblieben. Er hatte unüblich große, bleigefaßte Fenster, und die eisenbeschlagene Eichentür war in einen reichverzierten Steinbogen eingelassen.
An diesen ursprünglichen Bau waren später rechts und links zwei Flügel angebaut worden, so daß das ganze Gebäude, hätte man es aus der Luft sehen können, die Form eines H hatte. Zwei eckige Hufeisen, eins an der Vorder-, eins an der Hinterfront. Die Flügel waren so geschickt angefügt worden, daß es schwierig war, einen Unterschied zwischen Stil und Baumaterial festzustellen.
Dieses architektonische Meisterstück verdankten die Railtons ihrem Vorfahren, Walter Railton, mit dem Spitznamen Buck.
Für Sara und für viele Railton-Frauen vor ihr war Buck eine romantische Figur. Sein Porträt aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts hing in der Bibliothek, die nur durch das Arbeitszimmer des Generals zu erreichen war. Buck sah wie ein großer Schwadroneur aus mit spöttischem oder einladendem Blick - die Beurteilung hing vom Geschlecht des Beschauers ab. Doch für jeden schien er über die Jahrhunderte starke Signale auszusenden.
Sara dachte oft, daß John, wäre er nicht in die Politik gegangen, den gleichen Blick wie sein Vorfahre hätte. Aber John, so brillant und politisch klug er auch war, fehlte etwas, das alle anderen Railton-Männer, die Sara kannte, besaßen, insbesondere Buck Railton. Es war undefinierbar und hatte auch nichts mit sexueller Anziehungskraft zu tun. Zu dieser Erkenntnis war Sara seit langem gekommen, obwohl sie intuitiv von Anfang an gewußt hatte, daß John kein leidenschaftlicher Liebhaber war.
Sie dachte jetzt, als sie nach ihrer Rückkehr
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