Eine eigene Frau
anderes. Man weiß, dass er allein und mit einer solchen Düsternis trauert, dass es seine Wirkung auf Saida nicht verfehlen kann, die in ihrem derzeitigen träumerischen Zustand nichts so sehr will, als eine zutiefst leidende Seele trösten.
Sakari und dessen halbwaisen armen Kindern zuliebe will sie noch einmal bei den Possen am Knutstag mitmachen, obwohl sie ihrer Meinung nach schon viel zu alt für solche kindischen Maskeraden ist. Aber das ausgelassene Umherziehen von Haus zu Haus gehört zu den seltenen Dorfereignissen, an denen sie der Vater teilnehmen lässt. Herman hat praktisch auch keine Wahl, denn er hat selbst beim christlichen Abstinenzlerverein den Entschluss mitgetragen, die Jugend brauche ein vorbildhaftes Gegenstück zu den saufenden Burschenhorden am Knutstag. Zwar verkleiden sich auch die Mädchen witzig mit Sachen von Erwachsenen, aber sie singen eher geistliche Lieder und betteln nicht um Gaben, von Schnaps ganz zu schweigen. Ihre Aufgabe besteht im Gegenteil darin, kleine Gebäckstücke an Familien in Not zu verteilen.
Am Stephanstag, als Gräfin Nadine persönlich Saida ins Herrenhaus bestellt, damit sie bei der Bewirtung der Gäste helfe, darf Saida mit Omas Erlaubnis in den Kleiderschränken und in den alten Kisten auf dem Dachboden wühlen. Diesmal ist ihr für die Verkleidung zum Knutstag nicht jeder Fetzen recht. Sie will auch keine verdrehten Hörner auf dem Kopf haben, und auf keinen Fall wird sie sich das Gesicht mit Ruß beschmieren. Zur Anprobe bleibt Zeit, da die Alten vom Morgen bis zum Abend die Weihnachtsgäste im Herrenhaus bedienen müssen. Saida sind Aufgaben zugeteilt worden, die zu erfüllen keinen ganzen Tag in Anspruch nimmt.
Als sie die alten Kleider der Malmberg-Töchter anprobiert, kommt Arvi in die Küche. Saida bittet ihn, sein Urteil abzugeben. Stehen ihr Karos oder Streifen besser? Ist Altrosa die passende Farbe für sie, oder betont es nur die schreckliche Röte in ihrem Gesicht?
Saida geniert sich so gut wie gar nicht vor Arvi, sie merkt nicht einmal, wie der versucht den Blick abzuwenden, wenn sie beim Kleiderwechsel nur in Unterhemd und Unterrock dasteht. In ihren Augen ist Arvi noch ein Kind, auch wenn er mit seinen 15 Jahren ganz gehörig in die Länge geschossen ist. Ihr ist außerdem aufgefallen, dass Arvis Stimme nicht mehr so komisch ins Falsett gerät, wenn er begeistert schildert, was für interessante Zeiten im Gut gerade herrschen.
Offenbar hat der Geist von Oberst Armfelt, welcher an der Spitze des Nyland-Regiments galoppiert, diese Weihnachten Konkurrenz um den Spitzenplatz auf Arvis Heldenliste bekommen. Im Herrenhaus hat sich nämlich als Weihnachtsgast ein lebendiger General der russischen Armee eingefunden. Auch Saida hat den Besucher schon einmal flüchtig gesehen, und sie findet ebenfalls, dass er eine erschütternd stattliche Erscheinung abgibt, in seiner blauen Uniform.
Arvi erzählt, der General habe als Kommandant des Ulanenregiments der Leibgarde Seiner Majestät in Warschau gedient. Vor zwei Monaten erst sei er, ohne das Regimentskommando abzugeben, zum Generalmajor im kaiserlichen Gefolge ernannt worden.
Saida habe allen Anlass, sich bewusst zu machen, dass es sich bei dem Gast um einen der engsten Vertrauten des Zaren handle. Ob ihr der Säbel aufgefallen sei? Der sei Modell 98, wiege 1130 Gramm, und die Klinge sei 89 Zentimeter lang. Der Vorschrift nach werde die Waffe vor der Schlacht im ersten Drittel der Schneide messerscharf geschliffen.
Nein, solche Einzelheiten sind Saida tatsächlich noch nicht aufgefallen. Stattdessen hat sie festgestellt, dass am Säbelgriff eine lustige Silberquaste baumelt.
Mit einem sorgfältig geschliffenen Kavalleriesäbel kann man ein in die Luft geworfenes Stück Papier durchschneiden, erklärt Arvi.
»Ach? Ein richtiges Blatt Papier? Und wenn man einen Menschen töten muss?«
»Am sichersten ist es, hier reinzustoßen. Mit voller Kraft.«
Arvi legt die Handkante in die Kuhle zwischen Saidas Hals und Schlüsselbein.
»Aha«, sagt das Mädchen, irritiert von der Berührung.
Ab und zu geht ihr Arvis Kriegsbegeisterung auf die Nerven. Was für einen Sinn hat es, unendlich viel Detailwissen über Waffen, Uniformen, Flaggen und Regimenter im Kopf zu behalten? Wo gräbt Arvi sein Wissen überhaupt aus? Werden einem in der Pferdeschule solche Militärsachen beigebracht?
Arvi lacht überheblich. Nein, dort werden nur die Anatomie der Pferde und der Umgang mit ihnen unterrichtet. Und Hufbeschlag,
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