Eine Frau für Caracas
betäubtes Tier. Wenn ich zum Tode verurteilt worden wäre, hätte ich meinen Hals auf den Block gelegt, ohne auch nur einen Finger zum Widerstand zu erheben. Aber ich wurde nicht zum Tode verurteilt, sondern zum Leben! — Und die Betäubung wich von mir. Und ich begann nachzudenken. Drei Jahre lang hatte ich Zeit dazu, Tag und Nacht hatte ich Zeit, mich in die Vergangenheit hineinzubohren und jede gewesene Stunde, jede Minute und jede Sekunde aus der Dunkelheit heraufzuholen...«
Die Zigarettenpackung lag auf dem Tisch, Severin griff herüber, nahm sich eine neue Zigarette und entzündete sie an der alten, die er im Aschenbecher zerdrückte. Er hatte sie so weit aufgeraucht, daß der winzige Stummel seine Fingerspitzen geröstet haben mußte.
»Gewiß, ich war betrunken«, fuhr er hastig fort, »ich war sogar schwer betrunken, aber ich war ja ein gelernter Trinker, ein Säufer aus Gewohnheit; und nur Anfänger können sich so sinnlos berauschen, daß sie überhaupt nicht mehr wissen, was mit ihnen und was um sie herum geschieht. Der gelernte Trinker legt den dichten Nebel nur um die Dinge, die er vergessen will. — Natürlich liegt das ganze Bewußtsein in Wolken, aber sie sind nicht so dampfgesättigt, daß von der Umwelt und ihren Geschehnissen nicht doch noch Bilder zu erkennen wären. Schattenhafte Bilder, gewiß, aber die Zeit läßt sie deutlich werden, wie das Metolhydrochinon die belichteten Silbersalze der fotografischen Platte schwärzt...«
Werner hörte ihm zu. Was wollte der Mann eigentlich? War es nur sinnloses Geschwätz, was er da vorbrachte? Spann er weiter, was ihm in seiner Zelle drei Jahre lang geholfen hatte, die endlosen Stunden des Tages und der Nacht zu verkürzen? Worauf ging das alles hinaus? Severin sprach, als setze er voraus, daß Werner mit gewissen Ereignissen seines Lebens in allen Einzelheiten vertraut sei. Oft genug war er nahe daran gewesen, Severin zu unterbrechen, Zwischenfragen zu stellen, den allzu breit gewebten Teppich abzuschneiden und endlich zu erfahren, was Severin bezweckte. Aber er schwieg und lauschte beinahe fasziniert dieser wohllautenden Stimme, die zögernd, oft von längeren Pausen, von Sekunden des Nachdenkens unterbrochen, ihren düsteren Monolog fortsetzte.
»Als ich Anita Eyssing kennenlernte, war sie einundzwanzig Jahre alt. Mit siebzehn und achtzehn hatte sie, wie fast jedes junge Mädchen, Filmrosinen im Kopf. Sie war ein zauberhaftes Geschöpf. Aber vor der Kamera versagte sie vollständig, sie versagte in einer fast peinlichen Weise. Vielleicht lag es schon damals daran, daß sie zuviel damit zu tim hatte, ihre eigene Rolle durchzustehen. Die Linse ist erbarmungslos, sie deckt die geheimsten Schwächen auf und dringt durch die Haut. Mit der erträumten Karriere war es also nichts. Immerhin hatte sie es geschafft, in das Vorzimmer eines Filmbonzen vorzudringen und dort ein Postchen zu ergattern, als was, wußte sie wohl selber nicht genau. Der Bonze war viel zu alt, um etwas mit ihr zu haben, aber er sonnte sich in dem Glanz, er hätte etwas mit ihr. Film ist immer auf Wirkung bedacht, das färbt bis auf die Büros ab. Dieses attraktive Mädchen hob das Ansehen seiner Produktion. Die Besucher sagten sich schon im Vorzimmer, Donnerwetter, was muß das für eine fabelhafte Firma sein, wenn sie es sich leisten kann, eine geborene Diva im Empfang zu beschäftigen. — Sie war unbeschreiblich schön, sie war einfach ein Wunder, und ich möchte behaupten, daß Schauspielerinnen auf diesem Markt, auf dem die Schönheit fast höher im Kurs steht als das Talent, bei Verträgen und Gagenforderungen in Anita Eyssings Gegenwart merklich kleiner wurden. Sie sparte ihrem Chef sicherlich einen Haufen Geld ein, aber es nützte nichts, die Firma ging Pleite. Ich hatte eine Gagenforderung und wollte unbedingt zum Boß vordringen, denn ich hatte keine Lust, mein Geld zu verlieren.
Er ließ sich nicht sprechen, denn er war schon beim Packen, und i unter dem sehr verwirrten und tun die Zukunft bangenden Büropersonal war Anita Eyssing die einzige, die ihren kühlen Kopf behielt. >Was wollen Sie?< fragte sie mich, >Geld? — Lieber Gott, das möchte ich selber. Ich hänge auch noch mit drei Monatsgehältern. Und ich kann nicht einmal eine Schreibmaschine mitnehmen, denn da klebt schon der Kuckuck drauf.< — Das war meine erste Begegnung mit ihr, und das waren die ersten Worte, die ich von ihr hörte. Und dann hörte ich, wie eines der anderen Mädchen sagte: >Anita tut
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