Eine Frau mit Geheimnis
wollte. Auf See war England schon stark genug, auch ohne ein Bündnis mit der holländischen Flotte. Also würde es Russland empfindlich schaden.
Andererseits – teilweise gehörte sie selbst diesem mächtigen Land an. Daran hatte Meg, ihre schottische Kinderfrau, sie oft erinnert. Sollte ihr England nicht genauso viel bedeuten wie Mütterchen Russland? Solche Fragen hatte sie sich nie zuvor gestellt. Es wäre ihr wie ein Verrat erschienen, denn sie hatte ihr Leben dem Zaren geweiht. Und sie war bereit, im Dienst des russischen Monarchen zu sterben. Aber nun hielt sie sich in England auf, liebte einen englischen Duke, und das warf schwierige Probleme auf. Könnte sie den Prinzregenten jemals so verehren und bewundern wie den Zaren?
Nein, sicher nicht. Prinny erregte eher Spott als Zuneigung. Über seine zahlreichen Fehler wussten Männer wie Dominic Bescheid, und sie machten sogar Witze auf seine Kosten.
Niemand würde es wagen, den Zaren zu verhöhnen. Sonst würde man eine Gefängnis- oder sogar die Todesstrafe riskieren. Beinahe glaubte sie die Stimme ihrer Kinderfrau zu hören, die sie stets vor einer blinden, kritiklosen Liebe zu einem Monarchen gewarnt hatte. Nach Megs Ansicht war die Fähigkeit der Briten, über ihre Herrscher zu lachen, eine Eigenschaft, die ihnen gegenüber allen Feinden Vorteile verschaffte. Daran hatte Alex gezweífelt. Jetzt sah sie es anders.
„Hassen die Engländer den Prinzregenten?“, platzte sie unbedacht heraus. O Gott, wie konnte sie so etwas sagen, ausgerechnet in der Gesellschaft des Duke of Calder? „Verzeihen Sie, ich wollte nicht …“
„Schon gut. Die Briten hassen die Monarchie nicht. Das müssen Sie verstehen, Alexej Iwanowitsch.“ Plötzlich nahm sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an. „Aber manchmal missbilligen sie das Verhalten des Prinzregenten, insbesondere die Art und Weise, wie er seine Gemahlin behandelt.“ Er blieb stehen und musterte sie prüfend. „Darf ich fragen, was Sie zu dieser Frage veranlasst hat?“
„Da … bin ich mir nicht sicher“, erwiderte Alex zögernd. „Ich glaube, ich verglich die überlegene Kampfkraft der königlichen Marine, die soeben demonstriert wurde, mit den Karikaturen in den Schaufenstern der Grafikhandlungen. Und ich erinnerte mich, wie der Prinzregent ausgepfiffen wurde. In den meisten Ländern würden die Behörden so etwas nicht dulden.“
„Stellen Sie sich einen brodelnden Kessel vor, den man kontrollieren muss“, empfahl er ihr lächelnd. „Wenn man den Deckel an einer Seite ein bisschen hebt, lässt man Dampf ab. Der Topf kocht nicht über. Und wenn man entscheidet, der Dampf müsste drinnen bleiben, und den Deckel ganz fest schließt, hat man zunächst Erfolg. Jedoch nicht für alle Zeiten. Irgendwann wird der Deckel in die Luft fliegen, und der brodelnde Inhalt bricht sich Bahn – so wie es in Frankreich geschah. Was daraus geworden ist, wissen Sie ja. Die Briten lassen lieber ein wenig Dampf entweichen, statt eine Revolution heraufzubeschwören.“
Was Frankreich betraf, musste sie ihm recht geben. Und vielleicht stimmte es auch, was er über England sagte. Aber in Russland musste man von anderen Voraussetzungen ausgehen. Dort würde kein Dampfkessel explodieren.
„Warum schweigen Sie, Alexej Iwanowitsch?“, fragte Dominic. „Sind Sie anderer Meinung?“
„Einem Ausländer steht es nicht zu, politische Ansichten zu äußern, Calder. Allerdings möchte ich betonen – ich glaube, in einem anderen Land würde die englische Geisteshaltung wohl kaum Fuß fassen.“
Er nickte, und sie wanderten wieder umher, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
Von einer neuen Breitseite erschüttert, schwankte das Schiff. Alex versuchte sich an der Reling festzuhalten. Unglücklicherweise verlor sie trotzdem das Gleichgewicht. Ehe sie auf die Decksplanken stürzen und sich lächerlich machen konnte, packte Dominic ihren Arm. Die unerwartete Berührung durchfuhr sie wie ein Blitzschlag. Für einige Sekunden vergaß sie, wo sie war, ihr ganzer Körper bebte, und sie schrie verwirrt auf.
Das ignorierte er und hielt sie einfach nur fest, bis sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Dann ließ er sie los.
Alex brachte kein Wort hervor. Hatte sie ihre Gefühle für Dominic verraten? Angstvoll schaute sie in sein Gesicht. Würde sie Missbilligung darin lesen? Oder sogar Verachtung? Nichts dergleichen …
„Offenbar sind Sie unvorsichtig geworden, Alexej Iwanowitsch, zu selbstsicher in Ihrer Überzeugung, Sie
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