Eine Frau mit Geheimnis
verloren.
„Nun, ich werde Ihnen nichts von dem Maskenball erzählen.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Schon gar nicht von all den schönen Damen …“
Darauf antwortete Alexandrow nicht. Sein Schweigen verblüffte Dominic, und er musterte ihn etwas genauer. Reglos saß der junge Russe da, wie vom Donner gerührt. Warum?
„Und wie haben Sie den letzten Abend verbracht, Alexej Iwanowitsch? Offenbar fanden Sie genauso wenig Schlaf wie wir alle.“
„Ich – nun, ja … Ich musste mich um die Vorbereitungen für die heutige Abreise kümmern. Werden Sie uns begleiten, Calder?“
„Ja, freundlicherweise hat mir der Premierminister seine Gastfreundschaft angeboten.“
„Dann werden wir vielleicht zusammen reiten?“
Dominic nickte. Unter normalen Umständen hätte er in seiner mürrischen Stimmung lieber auf Gesellschaft verzichtet. Aber Alexandrow schien keinen Wert auf eine Konversation zu legen. Und so würden sie in einträchtigem Schweigen nebeneinander reiten. Vielleicht würde das sogar erfreulich sein. Jedenfalls brauchte er irgendetwas – oder jemanden, der ihn von den schmerzlichen Erinnerungen ablenkte.
Also würde er nicht in London zurückbleiben. Fünf ganze Tage konnte sie noch mit ihm verbringen. Ein Segen. Eine Qual.
Mechanisch legte Alex den pelzbesetzten Umhang über die linke Schulter. Bevor sie den Säbel in die Scheide steckte, starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie war ein kampferprobter Husarenoffizier. Und so sah sie auch aus. Kein bisschen wie eine Frau – schon gar nicht wie eine, die das Interesse eines Herzogs zu erregen vermochte.
Aber er hatte sie schön gefunden.
Die Augen zusammengekniffen, blickte sie wieder in den Spiegel und versuchte sich in den Augen eines Liebhabers zu sehen. Sie hatte eine wohlgeformte Figur, obwohl ihre Brüste klein und unter der Uniform unsichtbar waren. Auch schöne schmale Fußknöchel, jetzt in militärischen Stiefeln verborgen … Aber ihr Gesicht war nicht schön. Ganz sicher nicht. Gewiss, sie besaß ebenmäßige Züge, große blaue Augen. Doch das war auch schon alles. Dominic hatte nur erklärt, sie sei schön, weil er in heißer Begierde entbrannt war. Wahrscheinlich sagte er das zu jeder Frau, die leichtfertig genug war, um ihm in einen dunklen Garten zu folgen.
Sie strich über ihr rötlich braunes Haar. Kurz vor der Abreise aus Russland hatte sie es noch einmal schneiden lassen, und es fühlte sich immer noch zu kurz an, sogar für einen Kavallerieoffizier. Wie erschrocken wäre Dominic gewesen, hätte er ihr die Perücke abgenommen …
Hätte er sie erkannt? Wahrscheinlich. Während des magischen tête-à-tête hatte sie eine Entdeckung riskiert. Und trotzdem bedauerte sie keine Sekunde lang, was geschehen war. Ein letztes Mal schaute sie sich in ihrem Schlafzimmer um. Den Tschako unter dem rechten Arm, ging sie hinaus, stieg die Treppe hinab und schloss sich der Eskorte des Zaren an.
Wenn Dominic – Calder – an ihrer Seite ritt, würde jedes seiner Worte Erinnerungen heraufbeschwören, die sie aus der Fassung bringen könnten. Wenn sie an ihn dachte, durfte sie ihn nicht mehr „Dominic“ nennen. Nicht einmal in Gedanken. Sonst würde sie ihn vielleicht versehentlich mit seinem Vornamen anreden. Würde er Verdacht schöpfen? Das hatte sie bei der Begegnung an diesem Morgen befürchtet – und ihn gar nicht angeredet. Fand er das unhöflich?
Wie auch immer, es ließ sich nicht ändern. Zweifellos war es besser, er würde sie für ungehobelt halten, statt für die Frau, mit der er getändelt hatte …
Major Zass stand in der Eingangshalle des Hotels. Ungehalten hob er die Brauen. „Sie haben sich verspätet, Alexandrow.“
Wortlos schlug sie die Hacken zusammen. Zass war ein gerechter Vorgesetzter. Aber er war nicht gut auf sie zu sprechen, weil sie es auf dem Maskenball versäumt hatte, Informationen zu sammeln.
„Sie werden mit dem Duke of Calder hinter der Kutsche Seiner Majestät reiten, Alexandrow. Beeilen Sie sich, der Herzog wartet schon. Jeden Augenblick wird der Zar herunterkommen.“
Immer noch schweigend, setzte Alex ihren Tschako auf, salutierte und eilte aus dem Haus. Dominic saß bereits auf seinem schönen schwarzen Hengst. Für sie stand das Pferd bereit, das sie schon mehrmals geritten hatte. Plötzlich entsann sie sich bestürzt, dass sie das Tier stets auf Englisch beruhigt hatte. Nun, heute musste es sich an einen stummen Reiter gewöhnen – zumindest, was die englische Sprache betraf. Auf keinen
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