Eine geheime Liebe - Roman
nicht mehr. Man überträgt ein bisschen von sich auf den anderen und hat kaum Möglichkeiten, jemals etwas davon zu korrigieren.
Die Briefe waren ordentlich nach Datum geordnet und sahen abgenutzt aus. Wie jene Briefe, in denen man ständig herumblättert in der Hoffnung, etwas Tröstliches oder Antworten zu finden. Vermutlich hat er sie gelesen, wenn ihm
seine geistigen Höhenflüge nicht mehr gereicht haben. Und wenn er keinen triftigen Grund hatte, mich anzurufen.
»Ihr Vater war kein schlechter Mensch.«
Das hatte ich ziemlich unvermittelt und mit übertriebenem Freimut gesagt. Möglicherweise wollte ich mich dieser Tatsache selbst vergewissern.
»Er war auch kein bedeutender Mann. Wir hatten keine Alternative.«
Die eigenen Eltern zu verherrlichen, ist ein Fehler. Das hatte sie rechtzeitig begriffen.
»Sie können ruhig du zu mir sagen, Signora.«
Sie könnte meine Tochter sein, aber ihr weitere Vertraulichkeiten zuzugestehen, wäre vielleicht ein zu großes Risiko gewesen. Der Grund für ihren Besuch würde zu intimsten Bekenntnissen Anlass geben, und weiterhin das diplomatische Sie zu benutzen, würde meiner Neigung entsprechen, einen gewissen Abstand zwischen den Generationen zu wahren. Irgendwo musste ich anfangen. Ich hatte den ersten Brief, den ich ihm geschrieben hatte, aus der Schachtel genommen. Sie beobachtete mich aufmerksam. Die Neugierde war an ihren Händen abzulesen.
»Ich habe ihn meine dumme Erklärung genannt, Lucrezia, auch wenn er eher eine Einladung dazu war, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Meine Unverfrorenheit wird allerdings in regelmäßigen Abständen von meiner Schüchternheit außer Kraft gesetzt, und so habe ich lange gezögert, bis ich all meinen Mut zusammengenommen und ihn beim Pförtner abgegeben habe. Monatelang hatte ich ihn schon beobachtet,
aber meine verschiedenen Annäherungsversuche hatten keinerlei Erfolg gehabt. Nichts an seinem Verhalten deutete auf ein besonderes Interesse an mir hin. Eines Abends stand ich dann vor dem Theater. Es war einer jener Abende, an denen die Luft noch warm ist und das Licht sich nicht entscheiden kann, ob es an der Schwelle zwischen Tag und Nacht alles in finstere Schatten hüllen soll oder ob es die Menschen noch ein wenig hinhält. Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir: Sollte man zu dieser Stunde wirklich schon nach Hause gehen?
»Noch bevor ich mich umdrehte und mein verführerischstes Lächeln aufsetzte, spürte ich das, was in meiner bescheidenen Erfahrung mit der Liebe das Signal für mich war. Ein Schaudern in der Magengegend, eine plötzliche Erregung. Überwältigend. Ungewiss. Gewissenlos. Es gab keinen Zweifel, ich hatte mich verliebt. In einen jungen Musiker, der älter aussah, als er war. Viel später erst habe ich herausgefunden, dass er jünger war als ich. Mir half der Stolz, mit dem ich meine geringe Körpergröße immer kompensiert habe.
»Er war so groß, dass ich den Fehler beging, aus seinen Zentimetern auf seine Klugheit zu schließen. Wissen Sie, Lucrezia, kleine Menschen lernen schnell, sich im Leben zu behaupten. Sie müssen sich vordrängeln. Ich wollte sein Kind sein, aber das ist mir nur körperlich gelungen. Das Signal war unverwechselbar, zumindest für meine Sinne, die es an den ersten Anzeichen erkannten. Mit Guido ist mir dasselbe passiert, und nach sechs Monaten waren wir schon
Mann und Frau. Mit Ihrem Vater hat mich sofort etwas verbunden, eine verborgene Wahrheit, etwas Unterschwelliges. Es wartete nur noch darauf, enthüllt zu werden. Vorsichtshalber habe ich ein paar Tage gewartet, aber die Unruhe verschwand nicht. Nie habe ich mein Interesse an einem Mann derart schamlos bekundet. Um meiner Botschaft eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, habe ich ihn mit einem ehrerbietigen Sie angeredet.«
»Lesen Sie, Signora.«
Das Spiel begann sie zu amüsieren, Gabriella. Ich nahm den Gefühlen ihre Brisanz, indem ich eine gewisse Ironie in meine Stimme legte und mich bemühte, dem Ganzen eine scherzhafte Note zu geben.
Signore,
diese Zeilen schreibe ich, um Ihnen etwas mitzuteilen, das ich Ihnen nie persönlich sagen würde. Anstand? Zurückhaltung? Scham? Alles zusammen. Keine Musik diesmal. Nur ich. In den letzten Wochen ist mein Alltag auf unerwartete, unvorhersehbare und ziemlich ungelegene Weise durcheinandergeraten. Durch ein faszinierendes und verschlossenes Cello aus der Cellogruppe. Die Symptome? Es sind dieselben, die mich zu Schulzeiten befallen haben, als ein Klassenkamerad zum
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