Eine geheime Liebe - Roman
ich allein durch jenen einen Tag (es war Sommer) zu kennen scheine. Jemand, mit dem ich zuvor nur ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatte.
Du behauptest, Du weißt nichts von mir. Hier bin ich also. Ungefähr vierzig Jahre alt. Zwei Kinder. Zwei Ehemänner. Der erste: die Projektion eines falschen Films. Nach der obligatorischen Leidenszeit sind wir hinreichend gute Freunde geblieben, um einem Küken von elf Jahren eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Der zweite Ehemann ist der jetzige. Eine ruhige Ehe, ein ruhiger Mann, ein ruhiges Leben in einem schönen ruhigen Haus. Eine Tochter, Carolina, die wir über alles lieben. Das war’s in wenigen Worten. Du wirst Dich fragen, welche Rolle Du darin spielst.
Du hast viel mit bestimmten Bedürfnissen zu tun. Es ist sinnlos, die Datei namens »Diese Sache« zu öffnen, wenn sich die Daten auf dem Bildschirm nicht in Einklang bringen lassen. Ich möchte Dich stundenlang küssen, auf einer Terrasse in Neuengland oder an einem kalten Strand in der Bretagne, während Du lieber bei einem Cappuccino über Literatur debattierst und für die sinnentleerte platonische Liebe plädierst. Tun wir so, als wäre nichts, und reden wir nicht mehr davon. Nie wieder.
C.
»Ich wollte ihn provozieren mit meiner Bitte zu verschwinden, Lucrezia. Aus lauter Angst. Wenn ich diese Worte nun wieder lese, erkenne ich allerdings die Vagheit darin. In dunklen Momenten hat er mich gefragt, was passiert wäre, wenn er auf meinen Vorschlag, mit dieser dummen Schwärmerei Schluss zu machen, eingegangen wäre.«
»Was geschah stattdessen?«
»Das erzähle ich Ihnen morgen. Es ist spät geworden, und auch wenn es mich Überwindung kostet, das zuzugeben, ich habe die Schwelle zur siebzig bereits überschritten. Man hat mir Ruhe verordnet.«
Ich habe sie in ihr Zimmer begleitet und ihre Hand gestreift, war aber nicht in der Lage, ihre Finger mit den meinen zu verschränken. Irgendeinem genetischen Geheimnis zufolge gefiel mir diese Frau immer besser. Sogar das Knarren der Holzstufen, das diese erste gemeinsame Nacht begleitete, klang wie ein vertrauter Rhythmus. Montag in den frühen Morgenstunden würde sie wieder fahren. Uns blieben wenig mehr als achtundvierzig Stunden. Auf der Türschwelle habe ich dann endlich ihre Hände genommen. Ich habe mich ein letztes Mal auf die Zehenspitzen gestellt und in ihre geheimnisvollen kaffeebraunen Augen geschaut.
»Eine Liebesgeschichte hatte begonnen, das ist es, was geschehen ist, Lucrezia. Knapp zwei Jahre unentwegter Verhandlungen. Ich habe seine Telefonnummer unter dem Buchstaben S einprogrammiert: Schicksal. Etwas, das man sich unter gar keinen Umständen entgehen lassen darf.«
Dieser Besuch würde mich dazu zwingen, in eine weit
zurückliegende Leidenschaft einzutauchen. Am Ende war die Geschichte in diesem alten Haus angekommen, Gabriella, und ich konnte keinen Rückzieher mehr machen. Jene Briefe hatte ich geschrieben. Ich hatte zu viele Spuren hinterlassen. Nur Du, meine liebe Freundin, hättest Ordnung in diesen Wirrwarr bringen können.
Intermezzo
Über meinem Zimmer lag der Segen der Dunkelheit, aber trotz der Intimität dieses Refugiums konnte ich nicht einschlafen. Ich hätte mich dem Vergnügen hingeben können, dieses Märchen noch einmal zu durchleben und die mittlerweile verblassten Tage in mir wachzurufen. Wie eine Spinne an ihrem Netz hätte ich an meinen Erinnerungen weben und diese Frau belauern können. Stattdessen war ich damit beschäftigt, ihr Gesicht aus meinen Gedanken zu vertreiben. Eine Pause hätte mir geholfen, meine Gelassenheit wiederzufinden.
Die Zustände des Herzens. Ich erkannte die Symptome wieder. Zarte Schmetterlinge, die in der Brust herumflattern, winzige Stiche in der Körpermitte, als würde sich die Einbildung meines Verstandes bemächtigen.
Das goldene Fläschchen mit dem Beruhigungsmittel sah mich von der Kommode her an und lud mich ein, auf geistige Klarheit zu verzichten. Nein, ich wollte diesen unerwarteten Besuch aus dem Jenseits bis zur Neige auskosten.
Fast reglos lag ich auf dem großen schmiedeeisernen Bett und rieb nervös mit den Fingernägeln über das weiße Laken und die Patchwork-Strickdecke darüber. Die Decke
hatte ich in einem Sommer vor unzählig vielen Jahren auf Martha’s Vineyard gekauft. Danach Paris, die erste gemeinsame Wohnung mit Thierry, vier elegante Zimmer in der Rue du Bac. Unsere erste gemeinsame Nacht. In meinem Gehirn überlagerten sich die Gestalten der geliebten
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