Eine geheimnisvolle Lady
Stroh zum Vorschein.
Ähnliche Kassetten hatte sie auf Cranston Abbey gesehen. Vorsichtig schob sie das Stroh beiseite und fand etwas Hartes, Rundes, in hellblaue Seide gewickelt.
Lässig lehnte Ashcroft eine Hüfte an die Kante des Schreibtisches. »Das hat mir mein Händler heute Morgen geschickt.«
Diana zwang sich, die Anziehungskraft ihres Liebhabers zu ignorieren, und nahm den Gegenstand aus dem Kästchen. Ziemlich schwer, etwa so groß wie ihre Hand. Langsam entfernte sie die Seide – und hielt den Atem an. »Oh, wie schön!«
»Ja, das ist sie.«
Der Frauenkopf aus Alabaster starrte Diana mit blicklosen Augen an. Obwohl viele Jahrhunderte verstrichen sein mussten, seit der unbekannte Künstler dieses Gesicht geschaffen hatte, wies es keinen einzigen Makel auf. Den gleichen Eindruck vollendeter Perfektion gewann Diana, wann immer sie Cranston Abbey sah. Diese Skulptur war ein einzigartiges Kunstwerk.
»Griechisch?«, fragte Diana.
»Eher römisch würde ich sagen.« Ashcroft trat näher und strich mit einem Finger über das geflochtene Haar der Frau. »Erstes Jahrhundert, sagt mein Händler.«
»Sie hat einen außergewöhnlichen Ausdruck.«
Diana konnte ihren Blick nicht von dem Frauengesicht losreißen. Als würden die steinernen Lippen atmen, waren sie leicht geöffnet. Große Augen unter halb gesenkten Lidern schauten wissend in die Ewigkeit.
»Fast könnte man meinen, sie würde jeden Moment sprechen.«
»Und sie sagt die Wahrheit«, wisperte Diana.
Im Gegensatz zu der lebenden Frau in diesem Raum. Die reine Schönheit der Skulptur erschien ihr wie ein stummer Tadel. Energisch bekämpfte sie ihre Tränen. Wie albern, sich von einem Kunstgegenstand dermaßen beeinflussen zu lassen … In letzter Zeit gerieten ihre Emotionen viel zu oft an die Oberfläche, und plötzlich zitterte sie. Zur Sicherheit legte sie den Frauenkopf in Ashcrofts Hände. Mit starken, schützenden Fingern umschloss er ihn, und die Geste bewegte Dianas Herz.
Allmächtiger, sie musste ihre Gefühle unter Kontrolle bringen. Sie atmete tief durch und hoffte, er würde ihre Nervosität nicht bemerken.
»Danke, dass du mir diesen kostbaren Schatz gezeigt hast.« Zum Glück klang ihre Stimme einigermaßen normal.
»Sobald ich diese Frau sah, musste ich sie haben. Zu jedem Preis.« In Ashcrofts Miene schien eine Botschaft zu liegen, die über seine Worte hinausging.
»Gewiss ein wertvolles Stück für deine Sammlung.«
In stillen nächtlichen Stunden hatte er ihr von den wunderbaren Kunstwerken erzählt, die er zusammengetragen hatte. Immer wieder lud er Diana in sein Haus ein, damit sie die Sammlung besichtigen konnte. Sie lehnte jedes Mal ab, obwohl sie seine Schätze nur zu gern sehen würde. Vor allem sehnte sie sich danach, seine Freude an all der Schönheit zu teilen. Wann immer er über die Kunst der Antike sprach, schwang tiefe Bewunderung in seiner Stimme mit. Auch das gehörte zu der grenzenlosen Faszination des Mannes, den sie so schmählich hinterging.
Nun verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln, das sie nicht deuten konnte. »Dieser Frauenkopf ist etwas ganz Besonderes.« Er hob die Skulptur vor Dianas Augen. »Siehst du es nicht?«
Verwirrt inspizierte sie die Alabasterzüge – eine schöne junge Frau mit hoher Stirn und großen, weit auseinanderstehenden Augen, einer geraden Nase, vollen Lippen, ein zierliches, aber eigenwilliges Kinn, ein langer schlanker Hals mit brutal gezacktem Ende. Früher eine Frauenstatue. Jetzt nicht mehr. Aber immer noch atemberaubend. »Ein Fragment.«
»Ja«, bestätigte er ungeduldig. »Schau genauer hin.«
»Worauf?«
Er drehte das Alabastergesicht in seine Richtung und wieder zu ihr. »Das bist du.«
»Nein …« Diana wich zurück, als könnte körperliche Distanz auslöschen, was er soeben gesagt hatte.
Offenbar entging ihm, wie verstört sie war. Und das erschien ihr seltsam, denn normalerweise nahm er ihre Reaktionen sofort wahr. »Schau noch einmal hin. Das ist mir sofort aufgefallen.«
»Also, ich sehe es nicht«, erwiderte sie in scharfem Ton und weigerte sich, die Gefühle in seinem Blick zu interpretieren. Laura hatte behauptet, er sei vernarrt, er selbst hatte gestanden, dass er verfallen war. Und nun war der warme Glanz in seinen Augen unverkennbar, während er von dem schönen antiken Kopf und seiner Geliebten hin und her schaute.
Bald würde sie ihn verletzen, und das ertrug sie nicht. Für einen Rückzug war es zu spät. Zu spät für sie, zu spät
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