Eine Handvoll Worte
und fühlt sich gedemütigt.
Melissa beugt sich über den Schreibtisch. »Als ich dich einstellte, warst du hungrig. Du warst der Konkurrenz überlegen. Deshalb habe ich dich aus einer großen Zahl ortsansässiger Reporter ausgewählt, die, ehrlich gesagt, ihre Großmütter verkauft hätten, um deine Stelle zu bekommen.«
»Melissa, ich habe …«
»Ich will nicht wissen, was in deinem Leben gerade passiert, Ellie. Ich will nicht wissen, ob du persönliche Probleme hast, ob ein dir Nahestehender gestorben ist, ob du Berge von Schulden hast. Ich will nicht einmal unbedingt wissen, ob du ernsthaft krank bist. Ich will nur, dass du den Job machst, für den du bezahlt wirst. Du musst inzwischen wissen, dass Zeitungen unerbittlich sind. Wenn du die Storys nicht an Land ziehst, bekommen wir keine Werbung und die Auflagenhöhe stimmt nicht. Wenn wir das alles nicht haben, verlieren wir unseren Job, einige von uns früher als andere. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Sehr klar, Melissa.«
»Gut. Ich glaube, es hat keinen Zweck, wenn du heute an der Redaktionskonferenz teilnimmst. Sieh zu, dass du ins Reine kommst, dann sehen wir uns bei der Besprechung morgen. Wie kommt der Artikel über die Liebesbriefe voran?«
»Gut. Ja.« Sie steht auf und versucht so auszusehen, als wüsste sie, was sie macht.
»Schön. Du kannst ihn mir morgen zeigen. Bitte, sag den anderen, sie können hereinkommen, wenn du gehst.«
* * *
Kurz nach halb eins läuft sie die vier Treppen zur Bibliothek hinunter, ihre Stimmung noch immer düster, die Freuden vom Abend zuvor vergessen. Die Bibliothek ist wie ein leeres Warenlager. Die Regale um den Schalter sind inzwischen ausgeräumt, die Notiz mit dem Schreibfehler abgerissen, nur zwei Stück Tesafilm kleben noch dort. Hinter der zweiten Schwingtür werden Möbel geschoben. Der Bibliotheksleiter fährt mit dem Finger an einer Zahlenreihe entlang, die Brille auf der Nasenspitze.
»Ist Rory da?«
»Der hat zu tun.«
»Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass ich ihn nicht zum Lunch treffen kann?«
»Ich weiß nicht genau, wo er ist.«
Sie ist beunruhigt, da Melissa auffallen könnte, dass sie nicht am Schreibtisch sitzt. »Kann es denn sein, dass Sie ihn sehen? Ich muss ihm sagen, dass ich mich an den Artikel setzen muss. Können Sie ihm ausrichten, dass ich nach Feierabend hier unten reinschauen werde?«
»Vielleicht sollten Sie ihm eine Notiz hinterlassen.«
»Aber Sie haben doch gesagt, Sie wissen nicht, wo er ist.«
Er schaut finster auf. »Tut mir leid, aber wir stecken in der Endphase des Umzugs. Ich habe keine Zeit, Nachrichten weiterzugeben.« Er klingt ungehalten.
»Prima. Soll ich dann einfach in die Personalabteilung gehen und deren Zeit vergeuden, um nach seiner Handynummer zu fragen? Nur damit ich sicher sein kann, dass ich ihn nicht sitzen lasse und seine Zeit verschwende?«
Er hebt eine Hand. »Ich werde es ihm sagen, wenn ich ihn sehe.«
»Oh, machen Sie sich keine Umstände. Tut mir entsetzlich leid, wenn ich Sie belästigt habe.«
Langsam dreht er sich zu ihr um und mustert sie mit einem Blick, den ihre Mutter altmodisch genannt hätte. »Wir hier in der Bibliothek sind für Sie und Ihresgleichen vielleicht ohne Bedeutung, Miss Haworth, aber in meinem Alter muss ich nicht mehr der Laufbursche für oben sein. Verzeihen Sie, wenn das Ihr Sozialleben stört.«
Erschrocken fällt ihr ein, dass Rory behauptet hat, Bibliothekare könnten einer Verfasserzeile ein Gesicht zuordnen. Sie kennt den Namen dieses Mannes nicht.
Ellie wird rot, als er durch die Schwingtür verschwindet. Sie ärgert sich über sich selbst, weil sie sich wie ein patziger Teenager verhalten hat, über den alten Mann, weil er so wenig Entgegenkommen gezeigt hat. Sie ist sauer, weil sie aufgrund von Melissas eisiger Einschätzung kein fröhliches Mittagessen draußen haben kann, an einem Tag, der so gut angefangen hat. John war bis kurz vor neun geblieben. Der Zug aus Somerset treffe erst um Viertel vor elf ein, hat er gesagt, daher bestand kein Grund zur Eile. Sie hat ihm Rührei auf Toast zubereitet – fast das Einzige, was sie gut kochen kann –, neben ihm im Bett gesessen und selig ein paar Happen von seinem Teller stibitzt, während er aß.
Sie haben erst einmal eine gemeinsame Nacht verbracht, damals zu Beginn ihrer Beziehung, als er behauptete, er sei von ihr wie besessen. In der letzten Nacht war es so wie vorher: Er war zärtlich, liebevoll, als hätte ihn sein bevorstehender Urlaub
Weitere Kostenlose Bücher